Meditation

Er hatte sich seit einer Reihe von Jahren mit gewissen Übungen befasst, die er als Meditation bezeichnete. Nachdem er alles Erdenkliche darüber gelesen hatte, war er den Weg freiwilliger Askese gegangen und sogar in eine Art Kloster eingetreten, wo täglich mehrere Stunden meditiert wurde. Er konnte über das alles ganz nüchtern sprechen, sein Urteil war auch nicht durch innere Rührung über den eigenen Opfermut getrübt. Gewiss, meinte er, seine Gedanken habe er im Lauf der langen Jahre ganz gut beherrschen gelernt, obwohl er zugeben müsse, dass sie ihm ab und zu doch noch durchgingen wie wilde Pferde. Aber das Schlimme sei, dass ihm die Meditation gar keine Freude bereite und dass ihn die selbst auferlegte Askese innerlich hart und unfruchtbar mache. Kurzum, das Ergebnis seiner Bemühungen schien ihn in keiner Weise zu befriedigen. Er hatte verschiedenen sogenannten Religionsgesellschaften angehört, war aber überall wieder ausgetreten und suchte nun allein und fern jeder Gemeinschaft nach dem Gott, den sie alle so genau zu kennen schienen. Allmählich kam er in die Jahre und fühlte sich zuweilen schon recht müde.

Rechte Meditation ist ein wichtiges Mittel zur Reinigung des Bewusstseins, denn eine innere Erneuerung ist nicht möglich, ohne dass wir unser Bewusstsein vorher gründlich entleeren. Mitschleppen des alten Plunders bedeutet Verfall. Unser Denken verdorrt durch ständige Wiederholung des Gleichen, durch die innere Reibung infolge falschen Gebrauchs und durch die Fülle äußerer Reize, die es stumpf und müde machen. Gedankenkontrolle ist nicht so wichtig, vielmehr kommt es darauf an, herauszufinden, womit sich unser Denken vorzugsweise beschäftigt. Unser Ich ist ein Bündel einander widerstrebender Tendenzen, und Konzentration oder Gedankenzucht besteht ganz einfach darin, einer dieser Denkrichtungen das Übergewicht über die anderen zu verschaffen. Gedankenzucht ist also ihrem Wesen nach eine Unterdrückung unerwünschter Gedankengänge, wo aber Unterdrückung herrscht, gibt es kein Innewerden. Ein in Zucht gehaltener Geist ist kein freier Geist, Freiheit ist aber unerlässlich, wenn wir auf Entdeckungen aus sind. Wir müssen unbefangen sein, wenn wir die Regungen unseres Ichs aufspüren wollen, gleichgültig welchen Rang sie einnehmen mögen. Es ist unerlässlich, dass wir diese geheimsten Regungen bloßlegen und ihrer ganz bewusst innewerden, obwohl wir dabei zuweilen unerfreuliche Entdeckungen in Kauf nehmen müssen. Zucht zerstört aber gerade diese Unbefangenheit, deren wir zur Aufschlüsselung unseres Ichs nicht entraten können. Jede Gedankenzucht, so anspruchsvoll sie auch sei, zwingt den Geist in eine Schablone. Er formt sich unwillkürlich nach der Aufgabe, der er dienen soll, aber diese Aufgabe, die ihm den Stoff zum Denken gibt, ist nicht das wirklich Seiende. Gedankenzucht ist immer ein Auferlegtes, ein Gewand, eine Verhüllung, wie könnte sie also je der Entblößung dienen? Solche Zucht verleiht dem Geist wohl Kraft in der Verfolgung seines Ziels, aber dieses Ziel ist immer selbstgesetzt und hat daher mit der Wirklichkeit des Seienden nichts gemein. Der Geist schafft sich sein eigenes Bild der Wirklichkeit, und die Gedankenzucht dient nur dazu, diesem selbstgeschaffenen Bild Leben und Farbe zu verleihen.

Wahre Freude finden wir nur im Entdecken – im Entdecken unserer selbst und unserer Wandlung von einem Augenblick zum nächsten. Dieses Selbst, das Ich, welchen Rang es auch einnimmt, liegt immer noch im Bereich des Denkens. Der Verstand kann nichts denken, was außerhalb seines Denkbereichs liegt, das Unbekannte ist ihm unzugänglich. Wohl gibt es Schichten des Ichs, die dem Oberflächenverstand verschlossen sind, aber auch zu ihnen findet der forschende Geist des Menschen noch Zugang. Die Regungen des Ichs enthüllen sich in der Beziehung zum Du, daher ist diese Beziehung zum Du die Quelle wahrer Selbsterkenntnis, sofern sie nicht durch die Gesellschaft in starre Formen gezwängt ist. In der Beziehung zum Du wird unser wahres Ich aktiv. Um aber dieser Aktivität des Ichs wirklich innezuwerden, müssen wir für alle ihre Formen und Äußerungen ohne Ausnahme aufgeschlossen und aufnahmebereit sein. Hier eine Auswahl zu treffen, hieße nämlich, dieser oder jener Tendenz des Ichs gegenüber anderen den Vorzug zu geben und damit das Bild verfälschen. Aufgeschlossen sein heißt, das Tun und Lassen des eigenen Ichs als Unbeteiligter erleben. In diese Art des Erlebens darf also weder der Erlebende selbst noch das bereits Erlebte – die Erfahrung – einbezogen sein. Dann ist der Verstand frei von seinen angehäuften Erinnerungen, und das Ich als ›Sammler von Erfahrung‹ ist nicht mehr. Dieses Ich ist nämlich mit der aufgestapelten Masse seiner Erfahrungen identisch, es besitzt keine eigene, von diesem Schatz der Erfahrung gesonderte Wesenheit. Allerdings verleugnet das Ich gern diese Identität und spielt die Rolle des Außenstehenden, des Beobachters, des Überwachers, um seine Existenz zu sichern und sich inmitten der Flucht des Geschehens Dauer zu verleihen. Erst das innere Erleben der Einheit von Ich und Erfahrung befreit unseren Geist von diesem Dualismus. Damit können wir endlich der Ganzheit unseres Wesens von der Oberfläche bis in die geheimsten Tiefen innewerden – nicht Stück für Stück und bald durch diese, bald durch jene Lebensäußerung des Ichs, sondern auf einmal und in vollem Umfang. Von da an helfen auch die Träume und das Tun des Alltags, uns von dem Ballast des Ichs zu befreien. Wir müssen vollständig frei von Erinnerung sein, damit wir empfangen können, aber schon der Wunsch, diese Freiheit zu erlangen, um zu empfangen, ist ein schweres Hindernis auf dem Wege zu diesem Ziel. Das Verlangen, zu erleben und innezuwerden, muss ganz aufhören, und das kann nur geschehen, wenn der Erlebende selbst aufhört, dieses Verlangen durch die Erinnerung an früher Erlebtes zu nähren.

Diese geistige Läuterung darf sich nicht auf die oberste Schicht des Bewusstseins beschränken, sie muss vielmehr bis in die verborgensten Tiefen dringen. Das aber ist nicht möglich, wenn nicht alles Namengeben, alles ›In-Worte-Fassen‹ ein Ende hat. Indem wir Erlebtes in Worte fassen, verleihen wir ihm Kraft und Dauer, wecken wir den Wunsch, es festzuhalten, kommen wir der Neigung unseres Gedächtnisses entgegen, Ganzes in seine Teile zu zerlegen. Wir müssen uns den Vorgang des ›In-Worte-Fassens‹ still vor Augen halten, damit wir seines Wesens und seiner Wirkung innewerden. Wir fassen ja nicht nur in Worte, um uns mitzuteilen, sondern auch um einmal Erlebtes festzuhalten und greifbar zu machen, um es in uns aufzunehmen und womöglich immer wieder nachzuerleben. Dieses Namengeben und ›In-Worte-Fassen‹ muss also aufhören, und zwar nicht nur an der Oberfläche, sondern im ganzen Bereich unseres Denkens. Das ist eine Aufgabe, deren man nicht so leichthin innewird und die nur schwer innerlich zu erleben ist, da ja unser ganzes Bewusstsein auf diesem Namengeben und ›In-Worte-Fassen‹ und dem darauf folgenden Merken und Aufspeichern des so Erfassten beruht. Eben dieses ununterbrochene Aufzeichnen und Merken ruft in uns die Illusion hervor, dass das erlebende Ich etwas anderes sei als sein Erleben. Ohne Gedanken gibt es keinen Denker, der Gedanke erst erschafft den Denker, der innerlich von dem Gedachten Abstand nimmt, um sich als ruhender Pol im Strom der Zeit zu fühlen, da ja das von ihm Gedachte immer flüchtig und vergänglich ist.

Freiheit gewinnen wir nur, wenn sich unser ganzes Wesen, von der bewussten Oberfläche bis in die geheimsten Tiefen, ganz von dem zur Erfahrung erstarrten Erleben, also von der Vergangenheit, löst. Wille ist auf Wissen oder Erfahrung beruhendes Begehren. Solange sich der Wille in uns tätig bemüht, die Vergangenheit wie ein lästiges Gewand von sich zu werfen, um frei zu werden, solange bleibt uns die wahre Freiheit versagt, die nur durch eine Reinigung unseres ganzen Wesens erlangt werden kann. Erst wenn all die vielen Schichten unseres Bewusstseins zur Ruhe kommen und ganz still werden, dann erst öffnet sich das Tor zur unermesslichen Fülle, zu jener Seligkeit des ewigen Augenblicks, in dem die Schöpfung immer neu geboren wird.