Schönheit – Teil 1

Das Dorf war recht schmutzig, aber um die einzelnen Hütten herum herrschte Ordnung und Sauberkeit. Die Eingangsstufen wurden offenbar täglich gewaschen und mit Blumen geziert, der Innenraum war reinlich und aufgeräumt, wenn auch vom Kochen etwas verräuchert. Die ganze Familie war versammelt, Vater, Mutter und die Kinder, die alte Dame, die bei ihnen saß, war offenbar die Großmutter. Sie machten alle einen heiteren und überraschend zufriedenen Eindruck. Eine mündliche Verständigung mit ihnen war nicht möglich, da wir ihre Sprache nicht beherrschten. Niemand kam in Verlegenheit, als wir uns setzten, man ließ sich nicht in der Arbeit stören, nur die Kinder, ein Junge und ein Mädchen, kamen herbei und setzten sich freundlich lächelnd zu uns. Die Abendmahlzeit war beinahe fertig, das Essen war einfach und nicht übertrieben reichlich. Als wir uns verabschiedeten, kamen alle mit vor das Haus und blickten uns nach.

Die Sonne stand über dem Strom und verbarg sich hinter einer riesigen, einzelnen Wolke, die wie ein Feuerbrand loderte. In ihrem Widerschein erglühten die stillen Wasser und erinnerten unwillkürlich an längst vergessene Waldbrände.

Die langen Häuserzeilen waren durch einen ziemlich breiten Weg voneinander geschieden. Zu seinen beiden Seiten liefen offene, schlammige Gossen entlang, die eine Brutstätte unvorstellbaren Grauens waren. Man sah, wie sich große weiße Würmer durch die schwarze, schleimige Masse wühlten, die die Rinnen bis zum Rand erfüllte. Auf dem Wege tollten die Kinder lachend und scherzend umher, sie waren so in ihre Spiele vertieft, dass sie den Vorübergehenden keine Beachtung schenkten. Am Ufer des Stroms standen Palmen, ihre Silhouetten hoben sich scharf und dunkel gegen den flammenden Himmel ab. Schweine, Ziegen und Rinder wanderten zwischen den Hütten herum, die Kinder stießen die ausgemergelten Tiere einfach beiseite, wenn sie ihnen im Wege waren. Die Nacht rückte näher, und das Dorf begab sich allmählich zur Ruhe. Mütter riefen nach ihren Kindern, die daraufhin ihr lärmendes Spiel abbrachen und still nach Hause gingen.

Das große Haus war von einem wunderbaren Garten umgeben, und um den ganzen Besitz zog sich eine hohe weiße Mauer. Der Garten war ein einziges flammendes Blumenmeer, seine Pflege musste große Summen Geldes und eine Menge sorglicher Arbeit kosten. Hier herrschte ein unbeschreiblicher Friede, alles blühte und gedieh nach Herzenslust, und die Schönheit des Baumriesen in der Mitte schien über dem ganzen Leben dieser kleinen Welt zu wachen. Der Springbrunnen war tagsüber gewiss das Entzücken der vielen Vögel, jetzt aber sang er sein Lied allein und nur noch zu seinem eigenen Ergötzen. Alles, was da war, wurde still und zog sich für die Nacht ganz in sich selbst zurück.

Sie war Tänzerin, nicht von Beruf, sondern aus Liebhaberei. Manche schrieben ihr sogar ein überdurchschnittliches Können zu. Allem Anschein nach war sie sehr stolz auf ihre Kunst und ihre Begabung, das verriet sich in einer gewissen Arroganz ihres Gehabens, die nicht nur der Einbildung auf ihre Erfolge entsprang, sondern sicherlich auch von dem Bewusstsein ihres geistigen Ranges genährt wurde. Wie sich ein anderer über eine gelungene Arbeit freut, so genoss sie ihren geistigen Fortschritt. Dabei gibt es Fortschritt im Geistigen überhaupt nicht, wer ihn an sich wahrzunehmen glaubt, fällt einer, allerdings besonders angenehmen, Selbsttäuschung zum Opfer. Sie trug auffallend viel Schmuck, ihre Fingernägel waren lackiert und die Lippen mit dem dazu passenden Rot geschminkt.

Nach dem, was sie von sich erzählte, gab sie nicht nur Tanzabende, sondern hielt außerdem Vorträge über Kunst, Pflege des Schönen und Wege zur geistigen Vollendung. Eitelkeit und Ehrgeiz standen ihr ins Gesicht geschrieben, sie wollte nicht nur als Tänzerin, sondern auch durch ihre geistigen Bestrebungen bekannt werden, und zur Zeit hatte der Geist gerade die Oberhand.

Persönliche Probleme, meinte sie, gebe es für sie nicht. Sie sei gekommen, um über die Schönheit und über den Geist zu sprechen. Was das Persönliche betreffe, so habe sie für diese kleinlichen Dummheiten einfach keine Zeit, da sie sich ausschließlich mit weitergespannten Problemen befasse. Dazu gehöre zum Beispiel die Frage nach dem Wesen des Schönen. Was war Schönheit? War sie etwas Innerliches oder etwas Äußeres? War sie subjektiv oder objektiv oder sowohl das eine wie das andere? Sie war ihrer Sache so sicher – und gerade diese Selbstgewissheit ist allem Schönen abhold. Der selbstgewisse Mensch schließt sich von der Außenwelt ab und macht sich unverwundbar. Wie könnte man aber empfindsam sein, wenn man nicht aufgeschlossen und daher verwundbar ist?