»Mein Weg und Dein Weg« – Teil 1

Er war Akademiker, sprach viele Sprachen und dürstete nach Wissen wie ein Trinker nach Wein. Um seine Ansichten zu unterstreichen, zitierte er fortwährend die Aussagen anderer. Er hatte sich in allen möglichen Künsten und Wissenschaften versucht, und wenn er seiner Überzeugung Ausdruck gab, dann wiegte er dazu lächelnd den Kopf, um durchblicken zu lassen, dass das Gesagte nicht nur seine persönliche Meinung, sondern eine ein für allemal feststehende Tatsache sei. Maßgebend und schlüssig, meinte er, sei für ihn nur seine eigene Erfahrung. »Auch Sie haben gewiss Ihre Erfahrungen«, fuhr er fort, »aber damit können Sie mich nicht überzeugen. Sie gehen eben Ihren Weg, und ich gehe den meinen. Es führen verschiedene Wege zur einen Wahrheit, und eines Tages werden wir uns dort alle zusammenfinden.« Er war durchaus liebenswürdig, aber immer auf Abstand bedacht und sehr selbstsicher in allem, was er sagte. Für ihn gab es keinen Zweifel, dass die sagenhaften Meister, wenn auch nicht als sichtbare Gurus, so doch in aller Wirklichkeit existierten und dass es das höchste Ziel der Menschen sein müsse, ihre Schüler zu werden. In Gemeinschaft mit einigen Freunden hatte er selbst schon Schüler um sich gesammelt, die bereit waren, ihm auf seinem Weg zu folgen und seine Führung anzuerkennen. Aber er und seine Gruppe distanzierten sich von jenen, die mittels des Spiritismus Anleitung und Belehrung aus dem Totenreich suchten. Um die Meister zu finden, müsse man dienen, arbeiten, Opfer bringen, gehorchen und bestimmte Tugenden üben, vor allem aber gehöre dazu der Glaube.

Wer sich auf seine Erfahrungen stützt, um mit ihrer Hilfe zu entdecken, was ist, der gerät in das Netz der Illusion. Unsere Wünsche und Begierden prägen aller Erfahrung ihren Stempel auf, und wenn wir diese so verfälschte Erfahrung für ein geeignetes Mittel halten, zur Erkenntnis der Wahrheit zu gelangen, dann führt uns das nur zu ungebührlicher Selbstüberschätzung. Erfahrung kann nie von Kummer freimachen, Erfahrung ist keine geeignete Reaktion auf die Herausforderungen des Lebens. Eine solche Herausforderung ist immer neu, daher müssen wir ihr als neue, frische Menschen entgegentreten. Um einer Herausforderung angemessen begegnen zu können, müssen wir die gebundenen Erinnerungen ganz beiseite lassen, die wir Erfahrung nennen, und unsere augenblicklichen Reaktionen, die freudigen sowohl wie die schmerzlichen, in ihrer ganzen Tiefe begreifen. Erfahrung steht der Wahrheit im Wege, denn Erfahrung stammt aus der Zeit, sie ist aufbewahrte Vergangenheit, und wie könnte ein Denken, das in der Erfahrung, der Zeit verwurzelt ist, je des Zeitlosen innewerden? Dieses Bild der Erfahrung beruht weder auf persönlicher Voreingenommenheit noch auf Phantasie, wir können ihr wahres Wesen nur erkennen, wenn wir vorbehaltlos dafür aufgeschlossen sind, ohne zu verurteilen oder zu entschuldigen und frei von aller Bindung.

Erleben ohne Selbsterkenntnis wird als Erfahrung aufbewahrt und führt zur Illusion, mit Selbsterkenntnis gepaartes Erleben ist die Reaktion des Ichs auf eine Herausforderung der Umwelt und schlägt sich nicht als Zuwachs der Erinnerung nieder. Selbsterkenntnis ist die Entdeckung des Verhaltens des Ichs, seiner Absichten und Bestrebungen, seiner Gedanken und Gelüste. Einen Unterschied zwischen ›deiner Erfahrung‹ und ›meiner Erfahrung‹ kann es niemals geben, schon der Ausdruck ›meine Erfahrung‹ zeugt von Unwissenheit und Hingabe an die Illusion. Die meisten von uns wünschen sich nichts anderes, als in der Illusion zu leben, weil sie daraus eine Menge Freude und Nutzen ziehen. Die Illusion ist ihr privates Himmelreich, das ihnen erhöhtes Lebensgefühl und das Bewusstsein der Überlegenheit beschert. Hat einer nur das Zeug dazu, ist er begabt und schlau genug, dann bringt er es zum Führer, Mittler oder Vertreter der Illusion, der er sich hingibt. Da die meisten Menschen dem, was ist, der Wirklichkeit, am liebsten aus dem Wege gehen, entsteht um die Illusion herum gar bald ein organisatorisches Gebäude mit Eigentum, Riten, Gelübden und geheimen Zusammenkünften. Die Illusion kleidet sich in das Gewand der Überlieferung und gewinnt dadurch Geltung und Ansehen, eine hierarchische Rangordnung kommt dem Machtbedürfnis der Menschen entgegen, es gibt Novizen und Eingeweihte, Schüler und Meister und selbst unter den Meistern noch Grade der Geistigkeit und der Erleuchtung. Die meisten Menschen lieben es ja, andere auszunutzen und sich selbst ausnutzen zu lassen, und dieses System bietet, versteckt oder offen, die beste Gelegenheit dazu.

Ausnutzen heißt selbst ausgenutzt werden. Das Verlangen, andere für die eignen seelischen Bedürfnisse auszunutzen, schafft Abhängigkeit. Wer abhängt, muss festhalten, besitzen, und was er besitzt, das besitzt ihn. Ohne listig getarnte oder brutale Abhängigkeit, ohne Besitz an Dingen, Menschen oder Ideen bist du leer und unwichtig. Du möchtest aber unbedingt etwas sein, und um der nagenden Angst vor dem Nichts-Sein zu entgehen, wirst du Anhänger einer Organisation, einer Ideologie, einer Kirche, einer Tempelgemeinschaft. Dort wirst du überall ausgenutzt und kannst andere ausnutzen. Möglicherweise strebst du nach Brüderlichkeit, wie aber könnte es Brüderlichkeit geben, wenn du dem geistigen Ruin zustrebst? Du lächelst wahrscheinlich über weltliche Titel und Würden – aber in der geistigen Sphäre lässt du den Meister, den Heiland, den Guru gelten. Heißt das nicht, dass du weltliche Gebräuche höchst unpassenderweise übernimmst? Kann es im geistigen Wachstum, im Innewerden der Wahrheit, in der Gottnähe hierarchische Stufen und Ränge geben? In der Liebe gibt es keine Stufenfolge. Entweder liebst du oder du liebst nicht, auf keinen Fall aber geht es an, aus dem Mangel an Liebe einen in die Länge gezogenen Werdegang zu machen, an dessen Ende angeblich die Liebe steht. Wenn du weißt, dass du nicht liebst, wenn du diese Tatsache vorbehaltlos innewirst, dann besteht die Möglichkeit deiner inneren Wandlung. Solange dir aber nur um den Unterschied zwischen Meister und Schüler, Fortgeschrittenem und Anfänger, Heiland und Sünder zu tun ist, ahnst du noch nichts von Liebe. Der Ausbeuter, der dann zur Abwechslung selbst ausgebeutet wird, findet in diesem Dunkel der Illusion den ergiebigsten Jagdgrund.