Ansehen

Er meinte, er sei gewiss nicht habgierig, er gebe sich schon mit Wenigem zufrieden, aber das Leben habe es eben immer gut mit ihm gemeint, obwohl ihm die üblichen kleinen Leiden des Daseins nicht erspart geblieben seien. Er war ein ruhiger, bescheidener Mensch und hatte eigentlich nur den einen Wunsch, dass sein unbeschwertes Leben durch nichts gestört werden möge. Ehrgeiz kenne er nicht, meinte er, er danke Gott für das, was ihm zuteil geworden sei, für seine Familie und für den reibungslosen Ablauf seines Daseins. Offenbar war er von Herzen froh, dass er keine Probleme und Schwierigkeiten zu meistern hatte, wie so viele seiner Freunde und Verwandten. Dabei gewann er rasch an Würde und Ansehen und gab sich befriedigt darüber Rechenschaft, dass er zur Elite gehörte. Andere Frauen ließen ihn gleichgültig, und sein Familienleben floss, abgesehen von den üblichen kleinen Ehezwisten, in Glück und Frieden dahin. Irgendwelche Laster waren ihm fremd, er betete viel und diente Gott mit Eifer und Ehrerbietung. Was soll ich nun von mir halten?« fragte er, »ich kenne keine Probleme.« Er wartete nicht erst auf meine Antwort und erzählte mir mit einem zufriedenen und dabei doch etwas wehmütigen Lächeln von seiner Vergangenheit, von dem, was ihn zur Zeit beschäftigte und von der Erziehung, die er seinen Kindern angedeihen ließ. Freigebig, meinte er weiter, könne er sich nicht gerade nennen, aber ab und an lege er sich doch ein kleines Opfer auf. Zuletzt gab er seiner Überzeugung Ausdruck, dass jeder Mensch Kampf und Arbeit auf sich nehmen müsse, um sich eine geachtete Stellung in der Welt zu sichern.

Das Streben nach Ansehen ist ein Fluch, er ist ein wahres Übel, das Herz und Seele zerfrisst. Es schleicht sich unversehens ein und zerstört die Liebe. Um Ansehen zu gewinnen, braucht man vor allem Erfolg, und dazu gilt es, sich einen Platz, einen Wirkungskreis in der Welt zu sichern. Dort umgibt man sich dann mit einer Mauer unerschütterlicher Zuversicht, jener Selbstsicherheit, die sich mit dem Zuwachs an Geld, an Macht, an Erfolg, an Können oder Tugend unweigerlich einstellt. Selbstsicherheit sondert den einzelnen von seiner Umwelt ab und erzeugt dadurch Hass und Spannung in den menschlichen Beziehungen, die das Gerüst der Gesellschaft bilden. Die Angesehenen bilden immer die Oberschicht dieser Gesellschaft und geben damit ständig Anlass zu Zank, Neid, Hader und Unglück. Dabei ist ihre Abhängigkeit von den äußeren Gegebenheiten um nichts geringer als die der verachteten ›kleinen Leute‹. Die Meinungen ihrer Umgebung und die Gesetze der Tradition sind für sie von großer Bedeutung, weil sich dahinter ihre innere Armut verbergen kann. Wer Ansehen genießt, der muss es immer verteidigen und wird daher ängstlich und argwöhnisch. Da sein Herz voller Furcht ist, hält er zorniges Poltern für Rechtschaffenheit, erniedrigt er Tugend und Frömmigkeit zu Mitteln der Selbstverteidigung. Er ist wie eine Trommel, innen hohl, aber um so lauter, wenn man draufschlägt. Der Angesehene ist nie offenen Sinnes für das Wesentliche, weil er, genau wie sein verachteter kleiner Bruder, ganz in der Sorge um das eigene Wohl und Wehe aufgeht. Das Glück bleibt ihm versagt, denn er geht der Wahrheit aus dem Wege.

Nicht habgierig, aber auch nicht freigebig zu sein, diese beiden Eigenschaften sind eng miteinander verwandt. Beide gehen nämlich auf eine Ichbezogenheit zurück, die nur eine negative Form der Eigensucht ist. Der Habgierige ist aktiv, er muss hinaus ins Leben, muss streben, sich mit anderen messen, angriffslustig sein. Wer dazu nicht genügend Vitalität besitzt, der ist darum nicht frei von Habgier, sondern nur auf sein eigenes Ich beschränkt. Alles Wirken nach außen ist ihm eine lästige Störung, es führt zu unangenehmen Kämpfen, um so lieber verschanzt sich der solchermaßen verhinderte Egoist hinter der Behauptung, er sei nicht habgierig. Eine offene Hand zu haben, bedeutet noch lange nicht, dass man auch von Herzen großmütig und freigebig sei. Mit offenen Händen zu geben, ist verhältnismäßig einfach, wie man sich dazu stellt, hängt weitgehend von der im Augenblick verbindlichen Kulturschablone und ähnlichen Umständen ab. Großmut des Herzens ist von ungleich tieferer Bedeutung, sie verlangt weite Aufgeschlossenheit und tiefe Einsicht.

Nicht freigebig zu sein, ist wiederum die Folge einer blinden und bequemen Ichbezogenheit, die kein Wirken nach außen zulässt. Allerdings ist auch der ichbezogene Mensch irgendwie tätig, aber sein Tun gleicht dem eines Träumers, der nie geweckt wird. Das Erwachen wäre für ihn ein sehr schmerzhaftes Erlebnis, darum bleibt er, ob jung oder alt, lieber dabei, sein Ansehen zu mehren oder, mit anderen Worten, langsam zu sterben.

Wie die Freigebigkeit des Herzens, so ist auch die der Hand ein Wirken nach außen, aber damit kommt es oft zu schmerzlichen Irrtümern und bitterer Selbstenthüllung. Freigebigkeit der Hand ist leicht zu erlangen. Freigebigkeit des Herzens kann nicht erworben werden, sie ist da, wo sich das Ich nicht hinter aufgehäuften Werten verschanzt. Verzeihen setzt Verletztsein voraus, verletzt sein kann aber nur, wer Stolz in sich aufgehäuft hat – also braucht der Großmütige nicht zu verzeihen. Großmut des Herzens kann es nicht geben, solange uns die Erinnerung immerzu mit ›Ich‹ und ›Mein‹ in den Ohren liegt.