Klarheit – Teil 1

Nach dem langen Regen war der Morgen wundervoll klar und rein. An den Bäumen hatten sich zarte junge Blätter entfaltet, die in der kühlen Seebrise munter tanzten. Das Gras war grün und voller Saft, und die Rinder machten sich heißhungrig darüber her, als ob sie wüssten, dass ihnen diese ganze Herrlichkeit nur für ein paar kurze Monate beschert war. Der Duft des Gartens wehte durchs Zimmer, und draußen schrien und lachten die Kinder. Die Palmen trugen goldene Kokosnüsse, und die mächtigen wedelnden Blätter der Bananenstauden waren noch nicht von Alter und Wind zerschlissen. Wie schön war diese Erde, welch ein Gesang von Farbe und Licht! Jenseits des Dorfes, hinter den großen Häusern und dem lichten Gehölz breitete sich in strahlender Helle das Meer und sandte seine Brecher mit Donnergetöse gegen den Strand. Weit draußen tanzte ein kleines Fahrzeug, das nur aus ein paar zusammengelaschten Balken bestand, und in ihm saß ein einsamer Fischer.

Sie war noch sehr jung – in den zwanziger Jahren – und noch nicht allzu lange verheiratet, dennoch hatte die Zeit schon ihre Spuren an ihr hinterlassen. Sie sagte, sie stamme aus guter Familie, habe eine ausgezeichnete Bildung genossen und sei von früh auf an angestrengte geistige Arbeit gewöhnt, was ihr ermöglicht habe, den Doktorgrad mit Auszeichnung zu erlangen. Man sah ihr auf den ersten Blick an, dass sie ein kluger, aufgeweckter Mensch war. Als der Beginn erst überstanden war, floss ihr die Rede leicht von den Lippen, dann aber schien sie sich auf sich selbst zu besinnen, denn plötzlich wurde sie verlegen und stumm.

Sie wolle sich endlich einmal alles von der Seele reden, sagte sie, denn bisher habe sie noch mit keinem Menschen über ihr Problem gesprochen, nicht einmal ihre Eltern wüssten davon. Ganz allmählich, immer wieder stockend und zögernd, fand sie Worte für das, was sie bedrückte. Worte drücken ja nur auf einer gewissen Ebene genau das aus, was wir meinen, in den weitaus meisten Fällen erlaubt ihr oft recht weitgespannter Sinngehalt nur eine entstellende oder unvollständige Wiedergabe dessen, was der Sprechende eigentlich zum Ausdruck bringen möchte, so dass beim Hörer ganz ohne Absicht ein falscher Eindruck entsteht.

Die junge Frau wollte mir viel mehr sagen, als sie in Worten wiedergeben konnte, und hatte damit auch Erfolg. Trotz besten Willens brachte sie es nicht über sich, die ganze Misere ihres ehelichen Daseins vor mir auszubreiten, aber ihr Verstummen allein genügte, um mir das Elend und die unerträgliche Bitternis einer ehelichen Beziehung vor Augen zu führen, die nur noch auf dem Papier bestand. Ihr Mann hatte sie geschlagen und war dann auf und davon gegangen. Jetzt war sie mutterseelenallein, denn ihre kleinen Kinder konnten ihr einen Lebensgefährten noch nicht ersetzen. Was sollte sie tun? Zu ihm zurückkehren? Wieder unter einem Dach mit diesem Menschen wohnen?

Wie wichtig ist uns der Ruf, den wir genießen! Fragen wir uns nicht immerzu: »Was werden die Leute sagen?« Kann man, besonders als verheiratete Frau, allein leben, ohne dass man ins Gerede kommt? Der gute Ruf ist ein Deckmantel für den Heuchler. In Gedanken begehen wir jedes Verbrechen, aber nach außen hin stehen wir untadelig da. Auch meine Besucherin bangte um ihren Ruf, darum wusste sie jetzt nicht ein noch aus. Seltsam, wenn wir mit uns im reinen sind, dann mag geschehen, was will, es ist uns immer recht. Besitzen wir diese innere Klarheit, dann nehmen wir ohne Widerspruch hin, was ist, auch wenn es nicht zu unseren Wünschen passen will. Das, was ist, macht uns zufrieden, sobald wir seiner vorbehaltlos innewerden. Aber wie schwer ist es, innere Klarheit zu besitzen!

»Wie soll ich mir je darüber klar werden, was ich zu tun habe?«

Handeln ist keine Folge der Klarheit, sondern Klarheit ist Handeln. Sie beschäftigen sich immerzu mit der Frage, was Sie tun sollen, und vergessen darüber, zunächst einmal Klarheit zu schaffen. Sie sind zerrissen zwischen der Sorge um Ihren Ruf und dem, was Sie tun möchten, zwischen Ihrer Hoffnung und dem, was ist. Ihr doppeltes Verlangen, einmal nach einem makellosen Ruf, zum anderen nach einer idealen Lösung Ihres Problems, stürzt Sie in Konflikt und Verwirrung. Klarheit gewinnen Sie nur, wenn Sie mutig dem ins Auge schauen, was ist. Das, was ist, muss klar von dem unterschieden werden, was sein sollte. Das letztere ist nämlich nur unser eigenes, in eine entstellende Schablone gepresstes Verlangen. Das, was ist, aber ist die Wirklichkeit, nicht das Erwünschte, sondern die Tatsache.