Unbefangenheit

Sie kam in Gesellschaft anderer Leute, die sich über eine wichtige Angelegenheit aussprechen wollten. Wahrscheinlich hatte sie die Neugier hergeführt, vielleicht aber war sie auch nur von einer Bekannten mitgenommen worden. Sie war sehr gut gekleidet und gab sich mit vollendeter Würde, offenbar wusste sie sehr genau, wie gut sie aussah. Sie erlebte ununterbrochen sich selbst, ihren Körper, ihr Aussehen, ihr Haar und dazu als Wichtigstes den Eindruck, den sie auf andere machte. Jede ihrer Bewegungen war einstudiert, von Zeit zu Zeit nahm sie eine andere Stellung ein, die jedes Mal genau auf ihre Wirkung hin berechnet war. Ihr ganzes Auftreten war im Grunde nur eine Folge langgeübter Posen, auf die sie anscheinend um keinen Preis verzichten wollte. Während die anderen von wichtigen Dingen sprachen, posierte sie eine gute Stunde lang unverdrossen weiter. Zwischen all den ernsten, gesammelten Mienen fiel einem dieses ichbewusste Mädchen auf, das so sichtlich bemüht war, dem Gesagten zu folgen und an der Diskussion teilzunehmen. Dennoch ließ sie sich während der ganzen Zeit mit keinem einzigen Wort vernehmen. Ihr Benehmen sollte also nur dartun, dass sie mit der diskutierten Materie ebenfalls vertraut war. Als sie allerdings merkte, dass es für sie ein hoffnungsloses Unterfangen war, an dem schwierigen Gespräch teilnehmen zu wollen, blickte sie eine Weile ganz bestürzt vor sich hin. Dann aber sah man ihr deutlich an, wie sie sich rasch in sich selbst zurückzog, ohne dabei ihre langgeübte Pose aufzugeben. Jede Unbefangenheit wurde von ihr geflissentlich unterdrückt.

Irgendeine Pose hat sich wohl jeder Mensch zu eigen gemacht. Dazu gehören etwa der Gang und die Haltung des erfolgreichen Geschäftsmanns oder das Lächeln des Arrivierten, der Blick und das Gehaben des darstellenden Künstlers, die Pose des unterwürfigen Schülers und des zuchtgeübten Asketen. Wie unser ichbewusstes Mädchen, so nimmt auch der sogenannte religiöse Mensch eine Pose an, nämlich die der Selbstdisziplin, die er durch Verzicht und Opfer so fleißig übt. Das Mädchen opfert ihre Unbefangenheit um der Wirkung willen, der Fromme opfert sich selbst, um ein Ziel zu erreichen. Beiden geht es, wenn auch auf verschiedenen Ebenen, um das Ergebnis, und obwohl sein Opfer in sozialer Hinsicht gewiss wertvoller ist als das ihre, sind sie doch ihrem Wesen nach ähnlich, und das eine genießt keinen Vorrang vor dem anderen. Beide verraten damit einen kleinen Geist, der ihnen keine Einsicht erlaubt. Ein kleiner Geist ist immer eng und beschränkt, aller überströmende Reichtum ist ihm ein für allemal versagt. Ein solcher Verstand mag sich um die Zierde der Tugend bemühen, aber er bleibt darum doch ebenso beschränkt und seicht, wie er immer war, und wird auch durch alles sogenannte innere Wachstum oder geistige Erleben nur innerhalb seiner eigenen Enge einer Bereicherung teilhaftig. Es ist unmöglich, Hässliches schön zu machen. Der Gott eines kleinen Geistes ist immer ein kleiner Gott. Seichtes Denken dringt nicht dadurch in unergründliche Tiefen, dass es sich mit Kenntnissen und geschickten Phrasen ziert, dass es Worte der Weisheit im Munde führt oder äußerlich geschmückt einhergeht. Keine innere oder äußere Zier macht die Gedanken unergründlich, und doch wird uns aus ihrer Tiefe allein jene Schönheit zuteil, die weder Juwelen noch erworbene Tugenden schenken können. Auf dass Schönheit sich entfalten könne, muss unser denkender Verstand seiner eigenen Beschränktheit und Enge vorbehaltlos innewerden, um in einem Zustand wacher Selbsterkenntnis zu verharren, der alles Vergleichen ausschließt.

Sowohl die gesittete Pose des Mädchens wie die zuchtvolle des sogenannten religiösen Asketen ist in ihrer künstlichen Gequältheit das typische Ergebnis einer beschränkten Geisteshaltung, die dem Schönsten und Wesentlichsten, der natürlichen Unbefangenheit abhold ist. Unsere beiden Poseure haben diese Unbefangenheit in der Tat zu fürchten, da sie sie vor sich selbst wie auch vor anderen als das bloßstellen könnte, was sie wirklich sind. Darum sind sie beide so darauf bedacht, alles Natürliche und Unbefangene aus ihrem Wesen auszumerzen, und je erfolgreicher sie dabei sind, desto vollkommener wird ihre Anpassung an die gewählte Schablone oder die erkorenen Grundsätze. Dabei ist Unbefangenheit der einzige Schlüssel zum Tor der Wirklichkeit, dessen, was ist. Unbefangene Reaktion zeigt uns das Denken so, wie es ist, aber was sich dabei offenbart, wird dann sofort irgendwie aufgeputzt oder unterdrückt, und damit hat alle Unbefangenheit ein Ende. Alle kleinen Geister sind auf die Ausmerzung der Unbefangenheit bedacht, dafür putzen sie lieber ihr Äußeres auf und beweihräuchern sich auf diese Art selbst. Nur in Unbefangenheit, in Freiheit kommt es zu Entdeckungen. Ein in Zucht gehaltener Geist kann nicht entdecken, er mag im Rahmen der Disziplin zuverlässig und daher rücksichtslos funktionieren, aber das Unergründliche bleibt ihm verschlossen. Angst erzeugt in uns jenes Widerstreben, das als geistige Zucht bezeichnet wird, aber die unbefangene Entdeckung des Wesens der Angst macht uns zugleich von ihr frei. Alle Anpassung an eine Schablone, welchen Ranges sie auch sei, ist Angst, die nur zu Zwiespalt, Verwirrung und Gegnerschaft führen kann. Auch ein revoltierender Geist ist nicht etwa frei von Angst, denn wer sich im Widerstreit befindet, ist niemals unbefangen und damit frei.

Ohne Unbefangenheit gibt es keine Selbsterkenntnis, fehlt aber die Selbsterkenntnis, dann wirkt jeder flüchtige Einfluss umgestaltend auf unser Denken. Selbst solche flüchtigen Einflüsse können das Denken einengen oder weiten, aber natürlich nur innerhalb der jeweiligen Einflusssphäre. Was zusammengesetzt ist, kann auch zerlegt werden, was nicht mehr zerlegt werden kann, das Unteilbare, ist nur der Selbsterkenntnis zugänglich. Das Ich ist zusammengesetzt und muss daher zerlegt werden, damit die Selbsterkenntnis jenes Letzte, Unteilbare ergründen könne, das nicht mehr durch Einflüsse oder Ursachen bewirkt wird.