Ideologie – Teil 1

»Das ganze Gerede über Psychologie, unterbewusste Regungen und so weiter ist nichts als Zeitverschwendung. Was die Menschen brauchen, ist Arbeit und Brot. Ist das, was Sie sagen, nicht eine bewusste Irreführung Ihrer Zuhörer, da es doch auf der Hand liegt, dass es in allererster Linie darauf ankommt, die wirtschaftlichen Fragen in Angriff zu nehmen? Sie mögen ja recht haben und vielleicht sogar Erfolge erzielen, aber was nutzt das alles, solange die Menschen hungern? Zuerst muss man etwas im Magen haben, sonst kann man weder denken noch etwas tun.«

Natürlich muss man etwas im Magen haben, wenn das Leben weitergehen soll, aber Nahrung für alle findet sich nur dann, wenn unser ganzes Denken vorher eine grundstürzende Umwandlung erfährt. Eben darum ist es so wichtig, das Problem von der geistigen Seite her aufzurollen. Für Sie selbst ist ja auch die Ideologie viel wichtiger als die Produktion von Nahrungsmitteln. Gewiss, Sie reden gern davon, dass man den Armen Brot geben und sich um sie kümmern müsse, aber Hand aufs Herz, geht es Ihnen nicht auch dabei in erster Linie um Ihre Lehre, Ihre Ideologie?

»Das mag sein, aber die Ideologie ist für uns doch nur das Mittel, die Menschen zum kollektiven Handeln zusammenzuscharen. Das erste ist immer die Idee, der Plan – die Aktion ist dann die notwendige Folge.«

Demnach befassen auch Sie sich in erster Linie mit den geistigen Grundlagen, die das herbeiführen sollen, was Sie Aktion nennen.

Ihre Behauptung, man führe die Menschen bewusst in die Irre, wenn man mit ihnen von Psychologie und geistigen Dingen spreche, ist also offenbar nicht grundsätzlicher Natur. Jedenfalls machen Sie dabei mit Ihrer eigenen Ideologie eine Ausnahme, und weil sie Ihrer Meinung nach die einzig vernünftige ist, deshalb halten Sie alles weitere Forschen und Denken für zwecklos. Ist es nicht so? Um Ihre Ideologie zu verwirklichen, brauchen Sie kollektives Handeln, darum verurteilen Sie jede weitere Ergründung seelischer Zusammenhänge nicht nur als harmlose Zeitverschwendung, sondern als gefährliche Ablenkung von Ihrem Hauptziel: der Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft mit Vollbeschäftigung und so weiter und so weiter.

»Unsere Ideologie ist das Ergebnis eines umfassenden Studiums der Geschichte und beruht auf der kritischen Auswertung der dabei festgestellten Tatsachen und Zusammenhänge. Sie ist also in Wahrheit eine Ideologie der reinen Tatsachen und unterscheidet sich dadurch grundlegend von all dem dummen Aberglauben, den die Religionen den Menschen weismachen wollen. Hinter unserer Ideologie steht die unmittelbare Erfahrung, nicht nur irgendwelche Erscheinungen und Illusionen.«

Was Sie eben sagten, bedarf der Richtigstellung. Die Ideologien und Dogmen der organisierten Religionen beruhen nicht minder auf Erfahrung als Ihre eigene Lehre, meist handelt es sich dabei um das Erleben ihrer Stifter und ersten Lehrer. Auf alle Fälle liegen auch ihnen geschichtliche Tatsachen zugrunde. Nach dem, was Sie sagen, ist Ihre Ideologie ein Ergebnis gründlichen Studiums, bei dem Vergleiche angestellt, einzelne Tatsachen hervorgehoben, andere verworfen wurden. Die daraus gewonnenen Schlussfolgerungen mögen also wirklich auf Erfahrung beruhen. Warum verwerfen Sie aber dann kurzerhand die Ideologien anderer Leute als Illusionen, obwohl sie ebenfalls aus der Erfahrung stammen?

Sie sammeln die Menschen um Ihre Lehre, die anderen auch, Sie rufen nach kollektiver Aktion, die anderen tun in abgewandelter Form das gleiche. In jedem Fall ist das, was Sie kollektive Aktion nennen, die Auswirkung einer Idee, es geht also immer in erster Linie um Ideen, ob positive oder negative, die dem gemeinsamen, wenn Sie wollen kollektiven Handeln Schwung und Richtung geben müssen. Jede Ideologie hat ihren Schatz an Erfahrungen hinter sich, aber Sie wollen die Erfahrungen der anderen nicht gelten lassen, und die anderen geben Ihnen darin nichts nach. Dort heißt es, Ihr System sei eine undurchführbare Utopie, es mache die Menschen zu Sklaven des Staats und so weiter; Sie selbst bezeichnen dafür die Gegenseite als Kriegshetzer, deren Methoden über kurz oder lang zum allgemeinen Zusammenbruch führen müssten. Beiderseits spielt also die Ideologie die führende Rolle, nicht etwa die Nahrung und das Glück der Menschen. Zwei Ideologien ringen miteinander um den Sieg – und der Mensch ist ganz vergessen.

»Der Mensch muss um des Menschen willen vergessen sein. Wir opfern die Lebenden für eine bessere Zukunft.«

Das heißt, ihr vernichtet die Gegenwart zugunsten eines angeblich Kommenden. Ihr maßt euch an, im Namen des Staates Vorsehung zu spielen, wie es die Kirche im Namen Gottes getan hat. Ihr habt beide euren Gott und eure Bibel, ihr habt beide eure berufenen Dolmetscher, die Priester, und wehe dem, der es wagt, von der amtlich beglaubigten Wahrheit abzuweichen.

Ich sehe wirklich keinen großen Unterschied zwischen hüben und drüben, ihr seid einander sehr ähnlich, eure Ideologien mögen grundverschieden sein, aber die Methoden sind mehr oder weniger die gleichen. Ihr seid beide darauf aus, das Jetzt für die Zukunft zu opfern – als ob ihr genau wüsstet, was die Zukunft bringt, als ob sie eine vorbestimmte Größe wäre und ihr das Monopol darauf hättet! Dabei wisst ihr beide vom Morgen so wenig wie jeder andere. In der Gegenwart wirken ja so viele unwägbare Einflüsse, die alle zusammen das Bild der Zukunft ausmachen. Ihr versprecht beide einen Lohn, ein Utopia, einen zukünftigen Himmel, aber die Zukunft gehorcht keinem ideologischen Gesetz.

Ideen befassen sich immer mit der Vergangenheit oder der Zukunft, nie aber mit der Gegenwart. Die Gegenwart entzieht sich jeder Idee, jedem Denken, denn Gegenwart ist ausschließlich Handeln, das einzige Handeln, das es gibt, alles andere Handeln ist ein Verzögern, ein Aufschieben und daher überhaupt kein Handeln. Handeln, das auf einer Idee von Vergangenem oder Zukünftigem beruht, ist Untätigkeit, Handeln gibt es nur in der Gegenwart, im Jetzt.