Die Suche nach der Wahrheit
Er hatte viele tausend Meilen zu Schiff und im Flugzeug zurückgelegt, um hierher zu kommen. Nun war er angelangt und fand es alles andere als leicht, sich in diese neue, verwirrende Umwelt einzuleben, zumal er nur seine Muttersprache beherrschte. Nahrung und Klima waren ihm völlig ungewohnt, und da er in einem sehr hochgelegenen Lande aufgewachsen war, konnte er die feuchte Hitze schlecht vertragen. Er hatte sehr viel gelesen und auch einiges geschrieben, man konnte ihn wohl mit Fug als Gelehrten bezeichnen. In den philosophischen Lehren des Ostens wie des Westens war er gut beschlagen und hatte sich früher zum katholischen Glauben bekannt. Das alles, sagte er, hätte ihn aber schon seit Jahren nicht mehr befriedigen können, dennoch sei er seiner Familie zuliebe weiter im Beruf geblieben. Wie es schien, führte er eine recht glückliche Ehe und war voll herzlicher Liebe für seine beiden Kinder. Die lebten in seiner fernen Heimat in einem College und hatten die besten Aussichten auf eine glückliche und erfolgreiche Zukunft. Trotz alledem hatten seine Unzufriedenheit mit sich selbst und sein Überdruss an der eigenen Arbeit von Jahr zu Jahr zugenommen, bis es vor wenigen Monaten zu einer echten Krise gekommen war. Da war er einfach auf und davon gegangen – wenn auch nicht ohne die nötige Vorsorge für die Seinen zu treffen-, und jetzt war er eben hier. Er hatte gerade Geld genug, um durchzukommen, und war von dem einzigen Wunsch beseelt, endlich zu Gott zu finden. Seiner eigenen Meinung nach war er keineswegs überspannt und schien im übrigen wohl zu wissen, was er wollte.
Weder der Enttäuschte noch der Erfolgsmensch kann beurteilen, ob etwas normal ist oder nicht. Der Erfolgreiche fällt zu oft selbst aus dem Rahmen der Norm, der Enttäuschte wird leicht bitter und zynisch, oder er flüchtet sich in eine selbstgeschaffene Illusionswelt. Auch der Analytiker weiß im Grunde nicht, was normal ist. Wer in eine anerkannte Norm passt, ist darum noch lange nicht normal, denn diese Norm kann als Ergebnis einer anomalen Gesellschaftsform selbst aus dem Rahmen des Normalen fallen. Jede Gesellschaftsordnung, die allzu große Ansprüche an das Individuum stellt, ist anomal, ganz gleich, ob sie von der Linken oder der Rechten geschaffen ist, ganz gleich, ob sich diese Ansprüche im Staat oder in seinen Bürgern verkörpern. Das Normale ist im Gleichgewicht, und was im Gleichgewicht ist, kennt keine Ansprüche. Die Entscheidung über normal oder anomal liegt noch ganz im Bereich menschlichen Denkens und ist daher kein gültiges Urteil. Unser Denken mit all seinen stillschweigenden Voraussetzungen und Vorurteilen ist in seiner Ichbezogenheit von Grund auf fehlerhaft. Die Wahrheit ist weder ein Einfall noch eine logische Schlussfolgerung.
Ist es überhaupt möglich, Gott durch Suchen ausfindig zu machen? Können wir überhaupt nach etwas suchen, was sich unserem Wissen entzieht? Um etwas zu finden, muss man doch vor allem wissen, was man sucht. Wer aufs Geratewohl sucht, der findet am Ende nur seine eigenen Vorstellungen. Sie sehen so aus, wie er sie sich wünscht, aber diese Kinder seiner Wünsche sind niemals die Wahrheit. Die Wahrheit hat keine feste Wohnstatt, es gibt keinen Pfad, der zu ihr führt, und das Wort des Menschen ist nicht Wahrheit. Ist die Wahrheit etwa in einer bestimmten Umgebung, in einem besonderen Klima, unter diesen oder jenen Menschen zu entdecken? Ist sie hier und nicht dort? Kann jener Mensch zur Wahrheit führen und dieser nicht? Gibt es überhaupt einen Menschen, der zu ihr führen könnte? Wo man die Wahrheit sucht, kann das, was dabei zutage kommt, nur ein Ergebnis von Unwissenheit sein, denn schon das Suchen zeugt von Unwissenheit. Die Fülle des Seienden lässt sich nicht erforschen, alles Forschen muss ein Ende haben, damit diese Fülle offenbar werden kann.
»Sollte es wirklich nicht möglich sein, das Namenlose zu finden? Ich bin in dieses Land gekommen, weil man hier mehr Sinn für die Suche nach dem Höchsten hat. Hier ist man freier, braucht man nicht so viele Dinge zum Leben, ist man nicht wie anderswo Sklave seines Eigentums. Manche gehen wohl darum in ein Kloster, aber der Weg ins Kloster käme mir vor wie eine Flucht vor mir selbst, und da ich nicht gewillt bin, mich in eine von außen auferlegte Absonderung zu flüchten, bin ich hier und lebe meinen Tag, um das Namenlose zu finden. Sollte ich dazu nicht fähig sein?«
Als ob es darauf ankäme! Zu etwas fähig sein, heißt doch planmäßig handeln, sein Ziel unverrückbar im Auge behalten und alles tun, um es zu erreichen. Fragen Sie nach Ihrer eigenen Fähigkeit, so heißt das doch, dass Sie daran zweifeln, ob Sie als gewöhnlicher Sterblicher über die nötigen Verstandeskräfte gebieten, um das Ersehnte zu erlangen. Sicherlich steckt hinter Ihrer Frage die Überzeugung, dass nur Auserwählte, nicht aber die Durchschnittsmenschen Zugang zur Wahrheit haben. Wäre die Wahrheit in diesem Falle nicht ein Geschenk für die ganz wenigen, die sich vor allen anderen durch ihre besonderen Verstandesgaben auszeichnen? Es leuchtet ein, dass das nicht sein kann. Warum also zweifeln wir, fragen wir noch? Nun, wir haben ein Beispiel, ein Vorbild vor Augen, einen Menschen, von dem wir annehmen, er habe die Wahrheit wirklich entdeckt, und dieses Vorbild, zu dem wir aufblicken, macht uns in seiner Vollkommenheit unsicher und kleinmütig. Das Vorbild ist für uns deshalb so wichtig, weil wir mit ihm in Wettbewerb treten, wir wünschen uns an seine Stelle, wir möchten selbst der sein, der allen anderen den Weg weist. In der Frage ›bin ich dazu fähig?‹ offenbart sich also ein bewusster oder unbewusster Vergleich zwischen dem, was man selbst ist, und dem, was man hinter seinem Vorbild vermutet.
Warum vergleichen wir uns mit dem Ideal? Fördert solches Vergleichen etwa unsere Einsicht? Ist unser Ideal überhaupt etwas wesentlich anderes als wir selbst und nicht nur ein Geschöpf unserer eigenen Vorstellung? Verhindert es darum nicht geradezu, dass wir uns so sehen, wie wir sind? Vergleichen wir uns nicht deshalb so eifrig mit diesem Vorstellungsbild, weil wir der Einsicht in unser wahres Wesen entgehen wollen? Es gibt ja so viele Mittel, sich um die Wahrheit über das gepriesene Ich herumzudrücken, und zu diesen Mitteln gehört auch der Selbstvergleich mit dem Ideal. Ehe wir aber nicht innewerden, was wir wirklich sind, ist auch alles Forschen nach der sogenannten Wahrheit nur Flucht vor uns selbst. Ohne Selbsterkenntnis ist der Gott, den Sie suchen, nur der Gott Ihrer Illusion, und Illusion bringt unweigerlich Zwiespalt und Leid. Ohne Selbsterkenntnis gibt es kein richtiges Denken, ohne sie ist unser ganzes vermeintliches Wissen nur Unwissenheit, die Verwirrung und Verderben nach sich zieht. Selbsterkenntnis ist nicht das Ziel, aber sie ist der einzige Schlüssel, der uns das Tor zum unerschöpflich Ewigen öffnet.
»Ist es nicht unendlich schwierig, solche Selbsterkenntnis zu gewinnen, bedarf es dazu nicht vor allem einer sehr langen Zeit?«
Die bloße Vorstellung, dass Selbsterkenntnis schwer zu erlangen sei, ist schon ein ernstes Hindernis für den Erfolg. Hören Sie also auf meinen Rat, und schlagen Sie sich die Sorge aus dem Kopf, dass es schwierig sein oder lange dauern könnte. Nehmen Sie bitte nicht vorweg, was daraus wird oder nicht wird, sondern fangen Sie ganz einfach an. Selbsterkenntnis erwächst Ihnen noch am ersten aus der tätigen Beziehung zur Umwelt, wobei gesagt werden muss, dass im Grunde jedes Handeln eine solche Beziehung in sich begreift. Absonderung und Weltflucht dagegen führen niemals zur Selbsterkenntnis; wer menschlichen Kontakten auf diese Art ausweicht, der wählt vielmehr geradezu den geistigen Tod als letztes Mittel, der Einsicht in das Wesen eines Ichs zu widerstreben. Alles Widerstreben, das sich in den verschiedensten Formen der Unterdrückung, der Umfälschung oder der Sublimierung von Einsichten auswirkt, behindert natürlich das freie Strömen der Selbsterkenntnis. Diese Widerstände werden am deutlichsten in den Beziehungen zum Du, im Handeln offenbar. Jedes Widerstreben gegen die Selbsterkenntnis – ob positiv oder negativ gerichtet – mit seinem Vergleichen, Entschuldigen, Verdammen und Sich-binden ist ein Verdrängen des Seienden, der Fülle, die alles in sich begreift. Nur wer der Fülle dessen, was ist, ohne Vorbehalt innewird, erlaubt ihr, sich zu entfalten – die Entfaltung dessen, was ist, bedeutet aber den Anfang aller Weisheit. Weisheit ist die Voraussetzung, dass das Geheimnis des Unbekannten, Unerschöpflichen offenbar werde.