Unrast des Denkens

Die Straße war schmal und voller Menschen, aber es herrschte wenig Verkehr. Kam ein Autobus oder ein Wagen vorüber, so musste man an ihren äußersten Rand, fast bis in die Gosse beiseite treten. Es gab hier ein paar sehr kleine Läden und einen ebenso kleinen Tempel, der immer offen stand, weil er keine Türen hatte. Das Innere dieses Tempels war ungewöhnlich sauber, und die Leute aus der Nachbarschaft schienen ihn fleißig, wenn auch nicht in besonders großer Zahl zu besuchen.

Neben einem der Läden saß ein Knabe auf dem blanken Boden, er mochte zwölf bis vierzehn Jahre zählen und war damit beschäftigt, Girlanden und kleine Blumensträuße zu binden. Die Schnur dazu befand sich in einem wassergefüllten Schüsselchen, und vor ihm lagen auf einem feuchten Tuch und säuberlich in Häufchen geschieden Jasmin, einige Rosen, Ringelblumen und andere Blüten. Er hielt den Faden in der Rechten, griff sich mit der Linken eine Auswahl verschiedener Blumen, wand mit einer raschen, geschickten Bewegung die Schnur darum, und der Strauß war fertig. Offenbar brauchte er kaum auf die Verrichtungen seiner Hände zu achten, denn seine Blicke folgten meist den vorübergehenden Menschen, sie strahlten auf, wenn er jemand erkannte, senkten sich kurz auf die Arbeit seiner Hände und suchten dann sofort wieder ein neues Ziel. Jetzt trat ein anderer Junge zu ihm heran, er schwatzte und lachte mit ihm, aber seine Hände ruhten auch dabei keine Sekunde. Neben ihm lag schon ein ganzer Stapel fertiger Sträuße, aber für den Verkauf war es anscheinend noch etwas zu früh. Der Knabe hielt inne, erhob sich und verschwand, kehrte aber bald darauf mit einem anderen, etwas kleineren Buben, vielleicht seinem Bruder, zurück. Dann nahm er seine gefällige Arbeit mit der gleichen blitzschnellen Fingerfertigkeit wieder auf. Jetzt erschienen, einzeln oder in Gruppen, die ersten Käufer. Anscheinend hatte er seine feste Kundschaft, denn die meisten grüßten lächelnd und tauschten ein paar freundliche Worte mit ihm. Von da an rührte er sich über eine Stunde lang nicht mehr von seinem Platz. Um ihn schwebte der Duft seiner unzähligen Blüten, und wir nickten einander lächelnd zu.

Die Straße mündete in einen schmalen Pfad, der zum Haus führte.

Wie stark wir doch an das Vergangene gebunden sind! Nein, wir sind nicht nur gebunden, wir sind die Vergangenheit. Dabei ist die Vergangenheit etwas unendlich Kompliziertes. Besteht sie doch aus Schichten über Schichten ungeordneter Erinnerungen, freudiger und trauriger in buntem Durcheinander. Sie verfolgt uns buchstäblich Tag und Nacht, und allzu selten gibt es in dieser Folge des Sich-Erinnerns eine Lücke, durch die ein heller Lichtstrahl fallen kann. Die Vergangenheit ist wie ein Schatten, in dessen Dunkel alles Leben matt und düster erscheint. Dieser Schatten raubt dem Heute seine Klarheit und Frische und legt sich wie ein drohendes Unheil über das Morgen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden durch den langen Faden des Gedächtnisses zusammengehalten, und dieser ganze wenig duftende Strauß trägt den Namen Erinnerung. Das Denken wandert rastlos wie ein angekettetes Tier durch die Gegenwart in die Zukunft und wieder zurück, es bewegt sich in dem ihm eigenen engeren oder weiteren Zirkel, aber es gelangt dabei nie aus dem Bereich seines eigenen Schattens. Diese Bewegung ist die Beschäftigung des Denkens mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Das Denken ist diese Beschäftigung, sobald das Denken nicht beschäftigt ist, hört es auf zu bestehen. Es macht keinen Unterschied, womit sich das Denken befasst, ob mit Beleidigungen oder Schmeicheleien, mit Gott oder dem Alkohol, mit Tugend oder Leidenschaft, mit Sammeln oder Verschenken, alles das ist nur Beschäftigung, Sorge und Unrast. In Anspruch genommen sein ist immer ein unwürdiger, oberflächlicher Zustand, gleichgültig, ob es dabei um Gott oder nur um die Möbel geht.

Wenn unser Denken beschäftigt ist, haben wir das Gefühl, tätig zu sein und zu leben. Das Denken schöpft in der Tat sein ganzes Dasein aus der Betätigung, darum ist es so unermüdlich im Sammeln oder im Entsagen. Womit es sich betätigt, ist ziemlich gleichgültig, wichtig ist allein, dass es beschäftigt ist, und gewisse bessere Arten dieser Beschäftigung haben sogar gesellschaftliche Bedeutung. Mit etwas beschäftigt zu sein, macht also das eigentliche Wesen des Denkens aus, und darin liegt auch der Grund für seine bohrende und ununterbrochene Tätigkeit. Ausschließlich mit Gott, mit dem Staat oder der Ansammlung von Wissen beschäftigt zu sein, ist das Kennzeichen eines beschränkten Geistes. Jede Beschäftigung mit einer aus dem Zusammenhang gelösten Sache ist Selbstbeschränkung, und selbst der Gott eines so beschränkten Verstandes ist ein beschränkter Gott, so hoch ihn dieser Verstand auch stellen mag. Ohne Beschäftigung hört das Denken auf zu sein, und die Angst vor diesem Nichtsein ist die Ursache jener rastlosen Denktätigkeit, die uns das Leben schlechthin auszumachen scheint. Sie ist aber nicht das Leben, sondern sie führt unweigerlich zum Tode – einem Tod, der die gleiche Unrast in anderer Form ist.

Auch der Traum ist geistige Geschäftigkeit, er ist geradezu ein Symbol für die Unrast unseres Denkens. Im Traum erleben wir nur eine Fortsetzung des bewussten Zustandes, da werden alle möglichen Dinge aufgerollt, die im Wachzustand unter der Schwelle des Bewusstseins ruhten. Dieses unterbewusste Denken wird von der gleichen Unrast getrieben und nimmt das Ich ebenso in Beschlag wie das bewusste. Für dieses ruhelos umgetriebene Denken ist alles Ende immer nur ein fortgesetzter Beginn, das Ende an sich, das völlige Aus-Sein entzieht sich seinem Begriffsvermögen, was es begreift, ist immer nur das Ergebnis, und jedes Ergebnis hat eine Fortsetzung. Die Suche nach dem Ergebnis ist die Suche nach Dauer. Für das beschäftigte Denken gibt es also kein Ende, und doch kann nur das neu werden, was vorher endet, kann nur das Leben empfangen, was vorher stirbt. Das Sterben der Beschäftigung, des Denkens, ist der Beginn des Schweigens, der allumfassenden Stille. Zwischen dieser unwägbaren Stille und der Tätigkeit des Denkens gibt es keine Beziehung. Jede Beziehung erfordert Kontakt, erfordert Vereinigung, aber zwischen der Stille und dem Denken ist kein Kontakt vorstellbar. Das Denken kann die Stille auch niemals erfassen und ihrer inne werden; was es erfasst, ist nur das selbstgeschaffene Vorstellungsbild, dem es den Namen Stille gibt. Aber diese sogenannte Stille ist keine Stille. Stille kann nur sein, wenn die Beschäftigung des Denkens mit der Stille ein Ende hat.

Stille ist jenseits des Traums, jenseits der Beschäftigung des unterbewussten Denkens. Das unterbewusste Denken ist ein Rückstand offenkundiger oder verborgener Dinge aus der Vergangenheit. In der Rückschau auf diese Reste der Vergangenheit kann das Ich die Stille nicht erleben, es mag, wie es oft geschieht, von ihr träumen, aber der Traum ist keine Wirklichkeit. Der Traum wird oft für Wirklichkeit gehalten, aber Traum und Träumer sind nichts anderes als das beschäftigte Denken. Der Denkvorgang ist nämlich umfassend, er ist also nicht nur eine Funktion des Ichs, sondern das Ich selbst samt seinen Gedanken. Für diese totale Unrast, die immerzu Vergangenes ausgräbt und Künftiges zu erraffen sucht, gibt es natürlich keinen Zugang zu der Stille, die unerschöpflich ist.