Stille und Wille – Teil 1

Der langgestreckte, geschwungene Strand war fast menschenleer, nur ein paar Fischer wanderten zu ihrem Dorf zurück, das unter hohen Palmen nahe der Küste lag. Sie spannen im Gehen ihr Garn, indem sie die Baumwolle auf ihren nackten Schenkeln rollten und den fertigen Faden auf eine Spule wickelten. Das Garn, das sie auf diese Art herstellten, war sehr fein und dabei doch fest. Einige gingen mit leichten federnden Schritten, andere zogen müde die Beine nach. Sie waren alle schlecht ernährt und mager, die Sonne hatte ihre Haut schwarzbraun gebrannt Ein Junge kam singend und mit beschwingten, ausholenden Schritten vorüber, die Wogen rollten in ewigem Gleichmaß an den Strand. Sie waren trotz der schwachen Brise gewaltig hoch und zerstoben mit Donnergetöse in der Brandung. Der Mond war fast voll und stieg langsam aus dem blaugrünen Wasser, die Brecher leuchteten weiß über dem goldenen Sand.

Wie einfach ist im Grunde alles Leben, wie kompliziert und schwierig wird es unter unseren Händen! Leben ist in der Tat ein undurchschaubares Ineinander, dem man nur schlicht und einfach begegnen kann, aber eben diese Schlichtheit fehlt uns. Wenn man das Undurchschaubare, das Verwickelte nicht in Einfalt hinnehmen kann, wird man seiner niemals inne. Wir wissen zu viel, darum entgleitet uns das Leben, denn unser Zuviel ist immer noch so bitter wenig. Mit diesem Wenigen unterfangen wir uns, dem Unermesslichen ein Maß anzulegen – ein hoffnungsloses Beginnen! Unsere Eitelkeit macht uns stumpf, Erfahrung und Wissen binden uns, und unterdessen gleitet der Strom des Lebens an uns vorbei.

Mit jenem Knaben zu singen, mit den armen Fischern müde dahinzuwandern und auf dem Schenkel Garn zu spinnen, mit den Leuten im Dorf oder dem Pärchen im Wagen dort eins zu sein – nicht durch den Trick einer Idee, sondern in innerstem Erleben –, dazu bedarf es der Liebe. Liebe ist nie verwickelt, nie undurchschaubar, sie wird nur durch unser Denken entstellt und verzerrt, bis sie uns so erscheint. Das Denken nimmt uns ganz in Beschlag, darum wissen wir nichts von der Liebe. Was wir kennen, ist nur das Begehren und sein Wille, aber nicht die Liebe. Liebe ist die Flamme ohne Rauch. Der Rauch ist uns vertraut, er erfüllt Kopf und Herz mit seinem beißenden Qualm, bis es vor unseren Augen dunkel wird. Wir stehen nicht schlicht und demütig vor der Schönheit der Flamme, sondern quälen uns um sie. Wir leben nicht mit der Flamme und folgen nicht hurtig, wohin sie uns weht. Unser Zuviel an Wissen ist immer so jammervoll wenig, und doch verleitet es uns, die Liebe in seinen Rahmen zu spannen. Dabei schlüpft uns die Liebe durch die Finger, und uns bleibt nur der leere Rahmen. Nur wer weiß, dass er nichts weiß, ist einfach. Die Einfachen wandern leicht und erreichen ferne Ziele, weil sie nicht unter der Bürde des Wissens stöhnen.

Er war ein Sannyasi von einigem Ruf, er trug die safrangelbe Kutte und hatte den für seinesgleichen typischen, in die Ferne gerichteten Blick. Er sagte mir, er habe sich schon vor vielen Jahren ganz aus der Welt zurückgezogen und sei jetzt bald so weit, dass ihn das Jenseits ebenso gleichgültig lasse wie das Diesseits. Er habe sich den strengsten Übungen unterworfen und vor allem seinen Körper auf das härteste in Zucht genommen. So habe er es zu vollendeter Beherrschung seines Atems und seines ganzen Nervensystems gebracht, und aus diesen Fähigkeiten erwachse ihm jetzt ein Gefühl überlegener Kraft, obwohl er nie danach gestrebt habe.

Ist dieses Kraftgefühl der echten Einsicht nicht ebenso abträglich wie die Kraft des Ehrgeizes und der Eitelkeit? Alle Gier, auch die nach dem Höchsten, verleiht ja dem Handeln ebensoviel Kraft und Nachdruck wie die Angst. Alles Kraft- und Machtbewusstsein stärkt die Selbstheit, das ›Ich‹ und das ›Mein‹. Ist aber nicht gerade dieses Ich das stärkste Hemmnis für das Offenbarwerden dessen, was ist?

»Das Niedere muss unterdrückt oder mit dem Höheren in Einklang gebracht werden. Es kommt darauf an, dem Widerstreit zwischen den Wünschen des Körpers und denen des Geistes unter allen Umständen ein Ende zu machen. Im Verlauf dieser Dressur spürt der Reiter seine überlegene Macht, aber er gebraucht sie allein, um höher hinauf oder tiefer hinab zu gelangen. Macht wird nur zum Verderben, wenn wir sie für uns selbst gebrauchen, nicht aber, wenn sie dazu dient, dem Erhabenen den Weg zu bereiten. Wille ist Macht, er weist uns die Richtung. Wenn wir ihn für persönliche Zwecke missbrauchen, wirkt er zerstörend, lenken wir ihn aber in die richtige Bahn, so bringt er uns Segen. Ohne Willen kommt es nie zum Handeln.«

Jeder Führer gebraucht seine Macht als Mittel zum Zweck, und der Privatmann hält es damit nicht anders. Der Führer behauptet allerdings, er nutze seine Macht nur zum Wohle des Ganzen, während der kleine Mann eingestandenermaßen für sich selbst sorgt. Das Ziel des Diktators, des Mannes der Macht, ist dennoch das gleiche wie das des Geführten, die beiden Ziele sind einander verzweifelt ähnlich, weil sie beide selbstgeschaffene Vorstellungen sind, das eine ist nur eine Ausweitung und Verallgemeinerung des anderen. Wir verdammen das eine und billigen das andere, aber werden denn nicht alle Ziele durch unsere eigenen Vorurteile, Neigungen, Ängste und Hoffnungen bestimmt und in die Welt gesetzt? Sie nutzen Ihren Willen, Ihre Kräfte und Ihre Macht, um dem Erhabenen den Weg zu bereiten, aber das Erhabene ist doch seinerseits Gegenstand unseres Verlangens, das heißt wiederum des Willens, seiner teilhaftig zu werden. So schafft sich der Wille seine eigenen Ziele und opfert und unterdrückt dann alles, um sie zu erreichen. Das Ziel ist immer der Wille selbst, der sich je nach der Lage als das Erhabene, den Staat oder die Ideologie zu bezeichnen pflegt.