Gedanke und Bewusstsein

Alle Dinge zogen sich in sich selbst zurück. Die Bäume schlossen sich in ihr eigenes Wesen ein, die Vögel falteten ihre Schwingen zusammen und träumten von den Wanderungen des verflossenen Tages, die Glut des Stromes war stumpf geworden, seine Wasser hatten zu tanzen aufgehört und glitten ruhig und abweisend dahin. Die Berge standen fern und unnahbar am Horizont, und die Menschen hatten ihre Behausungen aufgesucht. Die Nacht war hereingebrochen, es herrschte die Stille des Für-sich-seins. Es gab unter den Dingen keine Verbindung mehr, jedes hatte sich verschlossen und von allen anderen getrennt. Die Blume, der Laut, die Sprache – alles war behaust, geschützt und unverwundbar. Man hörte Gelächter, aber es klang einsam und fern, alles Reden tönte gedämpft und wie von innen. Nur die Sterne waren einladend, offen und mitteilsam, aber auch sie waren sehr fern.

Der Gedanke ist immer nur eine äußerliche Reaktion, er kann niemals in die Tiefe dringen. Der Gedanke ist stets das Außen, er ist immer nur Wirkung, und Denken ist das Kombinieren von Wirkungen. Der Gedanke ist immer oberflächlich, obwohl sein Niveau verschieden sein mag. Er kann nie in die Tiefe dringen und das Wesen der Dinge erfassen. Der Gedanke reicht nicht über sich selbst hinaus, versucht er seine Grenzen zu missachten, dann erlebt er jedes Mal eine Niederlage.

»Was verstehen Sie unter dem Gedanken?«

Der Gedanke ist die Reaktion auf irgendeine Herausforderung, er ist aber kein Wirken, kein Tun. Der Gedanke ist eine Ausgeburt, das Ergebnis eines Ergebnisses, er ist das Ergebnis der Erinnerung. Erinnerungen sind Denkergebnisse, und Gedanken sind in Worte gefasste Erinnerungen. Erinnerung ist Erfahrung, das Denken, und zwar sowohl das verborgene wie das offenkundige, ist ein bewusster Vorgang, und alles Denken zusammengenommen ist unser Bewusstsein. Seine wachen und schlafenden, seine höheren und tieferen Schichten machen zusammen die Erinnerung, die Erfahrung aus. Das Denken ist immer in Abhängigkeit, es gibt kein unabhängiges Denken, redet man dennoch von unabhängigem Denken‹, so ist das ein Widerspruch in sich selbst. Da das Denken ein Ergebnis ist, widerspricht es oder stimmt es zu, vergleicht es oder setzt es in Beziehung, verurteilt oder rechtfertigt es, folglich kann es niemals frei sein. Kein Ergebnis ist frei, es kann sich drehen und wenden, kann in engem Umkreis operieren und sich vielleicht ein Stück abseits bewegen, aber es kommt von seiner Verankerung nicht los. Alles Denken liegt nämlich vor dem Anker der Erinnerung und hat daher nicht die freie Beweglichkeit, die es brauchte, um das Wesen eines Problems zu ergründen.

»Wollen Sie damit sagen, das Denken habe überhaupt keinen Wert?«

Sein Wert liegt im Ausgleich von Folgen, aber es besitzt keinen Wert an sich oder als Vorstufe des Wirkens. Wirken heißt umwälzen, heißt erneuern, es ist nicht nur ein Ausgleich gegebener Folgen. Wirken, das vom Denken, von der Idee, von der Überzeugung befreit ist, vollzieht sich nie im Rahmen eines Schemas. Innerhalb eines Schemas können wir nur handeln, und dieses Handeln ist dann immer gewaltsam, blutig oder das Gegenteil, das heißt ein Nichthandeln, aber es ist kein Wirken. Auch das Gegenteil, das Nichthandeln, ist kein Wirken, es ist nur eine abgewandelte Fortsetzung des Handelns. Nichthandeln als Gegenteil des Handelns ist immer noch im Bereich des Ergebnisses, und wenn man es pflegt, fängt sich das Denken im Netz seiner eigenen Reaktionen. Wirken ist nie ein Ergebnis des Denkens, Wirken hat überhaupt keine Beziehung zum Denken. Denken, als das Ergebnis, das es ist, kann nie das Neue schaffen. Das Neue ist von Augenblick zu Augenblick, Denken aber ist immer das Alte, das Vergangene, das Bedingte. Es hat wohl seinen Wert, aber es ist nicht frei. Aller Wert ist Begrenzung, er bindet. Der Gedanke ist bindend, weil wir ihn hegen.

»Welche Beziehung besteht zwischen dem Denken und dem Bewusstsein?«

Sind die beiden nicht ein und dasselbe? Finden wir irgendeinen Unterschied zwischen ihnen? Denken ist eine Reaktion – ist bewusst zu sein nicht ebenfalls eine? Wenn ich dieses Stuhles da bewusst bin, so ist das eine Reaktion auf einen Reiz, ebenso ist der Gedanke eine Reaktion der Erinnerung auf irgendeinen Anruf, eine Herausforderung. Diese Reaktion kennen wir unter dem Namen Erfahrung. Erleben ist Anruf und Antwort, Herausforderung und Reaktion, und dieses Erleben zusammen mit seiner Benennung und Aufzeichnung – dieser gesamte Vorgang in verschiedenen Schichten des Ichs ist unser Bewusstsein. Das leuchtet doch ein, nicht wahr? Erfahrung ist das Ergebnis, die Folge des Erlebens. Dieses Ergebnis erhält sofort einen Namen, der seinerseits wieder eine Folgerung ist, eine der vielen Folgerungen, die die Erinnerung ausmachen. Dieser Vorgang des Erkennens durch Folgern ist das Bewusstsein. Die Folgerung, das Ergebnis, ist selbst Bewusstsein. Das Ich ist Erinnerung, ist die Vielzahl der Folgerungen, und der Gedanke ist die Reaktion der Erinnerung. Jeder Gedanke ist eine Folgerung, Denken heißt folgern; es kann darum niemals frei sein.

Der Gedanke ist immer das Oberflächliche, die Folgerung. Bewusstsein ist das Aufzeichnen des Oberflächlichen. Das Oberflächliche scheidet sich in ein Äußeres und ein Inneres, aber diese Scheidung nimmt dem Gedanken nichts von seiner Oberflächlichkeit.

»Gibt es nicht etwas jenseits allen Denkens, außerhalb der Zeit Bestehendes, etwas, das nicht aus dem Denken stammt?«

Entweder haben Sie von diesem Zustand reden hören oder über ihn gelesen – man kann ihn allerdings auch erleben. Aber das Erleben dieses Zustandes wird nie zur Erfahrung, zum Ergebnis, man kann nicht darüber nachdenken, und wenn man es dennoch tut, dann handelt es sich nur um eine Erinnerung und kein Erlebnis. Sie können sich ins Gedächtnis rufen und wiederholen, was Sie gelesen oder gehört haben, aber das Wort ist nicht die Sache selbst, dieses Wort, die Wiederholung, verhindert vielmehr den Zustand des Erlebens. Dieser Zustand des Erlebens hält nicht so lange vor wie der Gedanke zum Aufblitzen braucht. Das Denken als Ergebnis, als Folge, kann daher den Zustand des Erlebens unmöglich kennen lernen.

»Wie kann man dem Denken ein Ende machen?«

Sie müssen zu der Einsicht gelangen, dass der Gedanke, die Ausgeburt des Gewussten, niemals im Zustand des Erlebens sein kann. Erleben ist immer das Neue, Denken immer das Alte. Werden Sie der Wahrheit dieses Satzes vorbehaltlos inne, dann wird Sie die Wahrheit frei machen – frei vom Denken, dem Ergebnis. Dann leuchtet auf, was jenseits des Bewusstseins ist, was weder schläft noch wacht, das Namenlose: die Fülle dessen, was ist.