Ursache und Wirkung – Teil 1

»Ich weiß, dass Sie Kranke geheilt haben«, sagte er, »können Sie nicht auch meinem Sohn helfen? Er ist fast blind. Ich war schon bei mehreren Ärzten, aber sie wissen keinen Rat. Sie meinen, ich solle ihn nach Europa oder Amerika bringen, aber ich bin nicht so reich, dass ich das bezahlen könnte. Bitte tun Sie doch etwas für ihn. Er ist unser einziges Kind, und meine Frau ist schwer herzleidend.«

Er war ein kleiner Beamter, der außer seiner guten Bildung keine irdischen Güter besaß. Wie alle Menschen seiner Glaubensrichtung konnte er Sanskrit und war auch in der Literatur dieser Sprache bewandert. Darum gab er immer wieder seiner Überzeugung Ausdruck, es sei das Karma seines armen Jungen, dass er so leiden müsse, und daneben natürlich auch sein eigenes und das seiner Frau. Was sie nur Böses getan hätten, meinte er, ob in jungen Jahren oder in einem früheren Dasein, dass sie jetzt von solchem Leid heimgesucht würden. Es müsse doch unbedingt eine Ursache für dieses schlimme Schicksal geben, wenn er sich auch bis jetzt vergeblich bemühe, die alte Schuld zu entdecken, für die sie so hart zu büßen hätten.

Vielleicht gibt es doch eine unmittelbare Ursache für diese Blindheit, die nur den Ärzten bis jetzt entgangen ist. Sie könnte zum Beispiel die Auswirkung eines ererbten Leidens sein. Wenn es aber den Ärzten wirklich nicht gelingen sollte, den physischen Ursprung der Krankheit herauszufinden, warum glauben Sie dann nach einem weit zurückliegenden metaphysischen suchen zu müssen?

»Wenn ich die Ursache ausfindig mache, wird es mir wahrscheinlich leichter fallen, mich mit der Wirkung abzufinden.«

Findet man sich je mit Wirkungen ab, nur weil man ihre Ursachen kennt? Nimmt etwa unsere Angst ein Ende, wenn wir wissen, wovor wir uns fürchten? Wir mögen die Ursache eines Vorganges oder Zustandes noch so genau kennen, daraus allein erwächst uns gewiss keine Einsicht in sein Wesen. Wenn Sie sagen, dass Sie sich mit der Wirkung besser abfinden können, wenn Sie die Ursache kennen, dann heißt das doch, dass Ihnen das Wissen um die Ursache des Übels Trost bringen soll, nicht wahr?

»Gewiss, allein darum möchte ich wissen, welche Sünde der Vergangenheit an der Blindheit meines Jungen schuld ist. Das zu erfahren, wäre uns der größte Trost in unserem Leid.«

Also geht es Ihnen in erster Linie um den Trost und nicht um die Erkenntnis des Zusammenhangs.

»Ist das nicht das gleiche? Erkenntnis gewinnen heißt doch Trost finden. Was nutzt alle Erkenntnis, wenn sie uns nicht Freude und Erleichterung verschafft.«

Erkenntnis kann oft recht bitter und beunruhigend sein, sie ist oft alles andere als erfreulich. Sie brauchen Trost, ihn und nicht die Erkenntnis suchen Sie. Die Krankheit Ihres Sohnes regt Sie natürlich auf, darum sehnen Sie sich nach innerer Ruhe. Das Mittel, das Ihnen wieder zur Ruhe verhelfen soll, nennen Sie zwar Erkenntnis, in Wirklichkeit geht es Ihnen aber nicht um Erkenntnis, sondern um Trost. Wenn Sie von Ihrem Forschen nach einer geheimen Ursache sprechen, so steckt dahinter nur Ihr Wunsch, irgendwie Ihrer quälenden Unruhe zu entrinnen. Sie möchten sich einlullen lassen, endlich wieder ungestört sein und suchen daher ständig nach einem Weg, dieses Ziel zu erreichen. Wir lassen uns ja alle so gern in Schlummer lullen und haben dazu die verschiedensten Schlafmittel bereit, als da sind Gott, die Riten, die Ideale, der Alkohol und so weiter. Das alles soll uns dazu dienen, der gefürchteten inneren Unruhe zu entgehen. Zu diesen Mitteln gehört auch das Forschen nach der Ursache.

»Warum sollte man sich seiner Unruhe nicht erwehren? Ist es ein Unrecht, wenn man dem Leid nach Möglichkeit aus dem Wege geht?«

Befreit man sich etwa vom Leid, wenn man ihm ausweicht? Sie mögen die Tür zuschlagen, um sich einen hässlichen Anblick zu ersparen, aber dadurch ist das Hässliche nicht aus der Welt geschafft. Es lauert nach wie vor hinter der Tür, nicht wahr? Was man unterdrückt, was man zurückstößt, dessen kann man nicht innewerden, das ist doch klar. Wenn Sie Ihr Kind züchtigen und unter Druck halten, so verhilft Ihnen diese Methode ganz gewiss nicht dazu, es zu verstehen. Sie suchen nach der Ursache, um dem Leid Ihrer inneren Unruhe zu entgehen, in dieser Absicht forschen Sie und werden eines Tages natürlich auch finden, was Sie suchen. Eine Möglichkeit gibt es allerdings, alles Leid von uns abzuschütteln, sie besteht darin, dass wir sein Entstehen, Werden und Vergehen aufmerksam beobachten, um jeder seiner Phasen gewahr zu werden und sein wahres Wesen zu erkennen.