Ursache und Wirkung – Teil 2

Wer dem Leid aus dem Wege geht, der verleiht ihm nur um so mehr Stärke und Dauer. Ebenso wenig kann es nützen, die Ursache des Leids zu ergründen, denn einen ursächlichen Zusammenhang erklären, heißt noch lange nicht, seiner innewerden.

Durch Erklärungen werden Sie niemals frei von Leid, das Leid ist unvermindert da, Sie haben es nur mit Worten und Schlussfolgerungen eigener oder fremder Herkunft überdeckt. Das Studium von Erklärungen fördert nicht die Weisheit, erst wenn alles Erklären ein Ende hat, kann sich Weisheit entfalten. Auch Sie suchen unermüdlich nach Erklärungen, die Sie einlullen sollen, und werden das Gesuchte auch finden, aber Erklärungen sind keine Wahrheiten. Die Wahrheit tritt nur in Erscheinung, wo ohne Folgerungen, ohne Erklärungen und ohne Worte beobachtet wird. Der Beobachter ist nichts als ein Sack voller Worte, sein Ich besteht ganz und gar aus Erklärungen, Schlüssen, Verurteilungen, Rechtfertigungen und so weiter. Ein Einswerden mit dem Beobachteten ist nur möglich, wenn der Beobachter ganz abseits bleibt. Dann allein kommt es zu wahrer Einsicht und zur Befreiung von dem Problem.

»Ich glaube, das habe ich begriffen, aber gibt es für uns nicht doch so etwas wie Karma?«

Was verstehen Sie darunter?

»Unsere gegenwärtige Lage ist das Ergebnis unseres Verhaltens in naher oder ferner Vergangenheit. Diese Folge von Ursachen und Wirkungen mit allen ihren Verzweigungen ist in kurzen Worten ausgedrückt der Inhalt der Lehre vom Karma.«

Das ist nur eine Erklärung, aber wir wollen einmal versuchen, über die bloßen Worte hinauszugelangen. Gibt es überhaupt feststehende Ursachen, die feststehende Wirkungen zeitigen? Hätte nicht alles Leben ein Ende, wenn Ursachen und Wirkungen ein für allemal fixiert wären? Alles Statische, Starre, Spezialisierte muss sterben. Zeigt uns nicht die Naturgeschichte, dass hochspezialisierte Tierrassen zum Aussterben verdammt sind? Der Mensch ist das Universalgenie unter den Geschöpfen, darum hat er die beste Aussicht, allen Wandel zu überleben. Bestehen kann nur, was sich anpasst, alles Starre, Unbiegsame wird zerbrechen. Die Eiche kann nichts anderes werden als eine Eiche, hier sind Ursache und Wirkung vorbestimmt und in der Eiche vereint. Der Mensch ist darin anders, er ist nicht so in sich verkapselt und spezialisiert, also hat er immer die Möglichkeit zu überleben, sofern er sich nicht selbst auf diese oder jene Art zugrunde richtet.

Dennoch sind wir geneigt, Ursache und Wirkung als etwas Feststehendes, aneinander Gebundenes aufzufassen. Kommt diese Bindung nicht darin zum Ausdruck, dass wir die Ursache durch das Wörtchen ›und‹ mit der Wirkung zu koppeln pflegen? Steht aber eine Ursache jemals fest? Und ist die Wirkung jemals unverrückbar an sie gebunden? Ist es nicht vielmehr so, dass Ursachen und Wirkungen in dauerndem Fluss begriffen sind? Das Heute ist das Ergebnis des Gestern, das Morgen das Ergebnis des Heute, was Ursache war, wird Wirkung, und was Wirkung war, verwandelt sich in Ursache. So hängt eines am anderen wie die Glieder einer Kette, deren jedes sich in stetigem Fluss in das nächstfolgende verwandelt. Das alles ist in ständiger Bewegung, es gibt nirgends einen Stillstand, nichts, das in diesem ewigen Wandel unverändert bliebe.

Alle Erklärungen dagegen, alle Schlussfolgerungen stehen unverrückbar fest, ob sie nun von der politischen Linken oder Rechten stammen oder im Bereich des Religion genannten organisierten Glaubens ihren Ursprung haben. Wenn Sie versuchen, den freien Fluss des Lebendigen durch Erklärungen in das Bett Ihres Denkens zu zwingen, dann überliefern Sie das Lebendige dem Tod. Leider begehren danach die meisten Menschen: sie möchten sich durch Worte, durch Ideen, durch Gedanken einlullen lassen, um nicht mehr sehen zu müssen, was ist.

Die Konstruktion einer rationalen, nach menschlichen Denkgesetzen geordneten Wirklichkeit ist nur eines jener vielen Mittel, mit denen wir unserer inneren Unruhe ein Ende zu machen suchen, aber das Verlangen, die Augen vor der Wirklichkeit zu schließen, Ursachen zu finden und die angebliche Logik des Geschehens zu ergründen, schafft selbst nur wieder neue Unruhe, so dass sich das Denken in seinem eigenen Netz gefangen sieht. Das Denken ist niemals frei, noch kann es sich selbst befreien. Alles Denken ist ein Ergebnis der Erfahrung und daher von der Erfahrung abhängig. Erfahrung ist nicht das Maß für die Wahrheit. Nur wer das Falsche als falsch erkennt, gelangt zu jener Freiheit, in der sich das Wahre offenbart.