Wachsein – Teil 1
Mächtige Wolkengebilde zogen weißen Wogen gleich durch das heitere Blau des Himmels. Viele hundert Fuß unter uns lag die tiefblaue Bucht mit dem schönen Schwung der Küste, und weit in der Ferne sah man den Schatten des Festlands. Der Abend war herrlich ruhig und klar, am Horizont zog sich die Rauchfahne eines Dampfers hin. Die Orangenhaine breiteten sich bis zum Fuß des Berges, das Aroma der Früchte schwebte über den sanften Hängen. Der sinkende Abend tauchte alles in Blau wie immer, selbst die Luft schien von dieser Bläue durchtränkt zu sein, und die weißen Häuser verloren hinter dem zartblauen Schleier ihren Glanz. Das Blau der See schien überzulaufen und sich über das Land zu ergießen, auch die Gipfel über uns hüllten sich in durchsichtiges Blau. Die Landschaft war wie verzaubert, und über ihr lag eine unfassbare Stille; die wenigen abendlichen Geräusche schienen, wie auch wir selbst, in diese Stille einbezogen und ganz zu ihr zu gehören.
Diese Stille machte alles neu, sie spülte das Herz aller Dinge rein vom Unflat und Schmerz der Jahrhunderte. Sie wusch uns die Augen klar und ließ die Gedanken zur Ruhe kommen. Ein Esel stieß seinen Jammerschrei aus, die Echos erfüllten das Tal, und die Stille schluckte sie auf. Das Ende des Tages war der Tod alles Gestern, und dieser Tod schloss eine Wiedergeburt ohne Gram um Vergangenes in sich ein. In der Unermesslichkeit der Stille wurde alles Leben neu.
Im Zimmer wartete ein Mann, der offenbar darauf brannte, sich auszusprechen. Obwohl er ruhig und bedächtig Platz nahm, machte er einen merkwürdig gespannten Eindruck. Offenbar kam er aus der Stadt und passte in seiner eleganten Kleidung so gar nicht in dieses kleine Nest und in das einfache Zimmer, in dem wir saßen. Er sprach von seiner Tätigkeit, seinen beruflichen Sorgen, dem täglichen Kleinkram des Familienlebens und von der Schwierigkeit, seiner Wünsche Herr zu werden. Alle diese Anliegen meisterte er so gut und gescheit wie andere auch, das einzige, was ihm ernstlich Sorge machte, waren seine sexuellen Gelüste. Er war verheiratet und hatte Kinder, aber das genügte ihm nicht. Seine sexuellen Bedürfnisse hatten sich für ihn nachgerade zum wichtigsten Lebensproblem ausgewachsen und machten ihn fast verrückt. Er hatte Ärzte und Analytiker aufgesucht, aber das Problem bestand nach wie vor. Es musste doch eine Lösung geben, und die wollte er endlich finden.
Wie eifrig sind wir darauf bedacht, unsere Probleme zu lösen! Wie hartnäckig suchen wir nach einer Antwort auf unsere Fragen, nach einem Ausweg, einem Heilmittel! Dabei kommt es uns nicht in den Sinn, uns mit dem Problem selbst zu befassen. In unserer Aufregung und Angst greifen wir vielmehr nur gierig nach irgendeiner Lösung, die natürlich nur selbstentworfen sein kann. Obwohl das Problem von uns selbst geschaffen ist, suchen wir die Lösung anderswo.
Nach einer Lösung suchen, heißt dem Problem ausweichen – und eben das möchten wir fast alle. Dann kommt es uns nur noch auf die Lösung an, das Problem selbst ist gleichgültig geworden. In Wirklichkeit ist die Lösung aber nicht vom Problem zu trennen, sie liegt im Problem selbst und nicht anderswo. Wird die Lösung von der Hauptsache getrennt, dann ergeben sich sofort alle möglichen neuen Probleme: wie die Lösung zu verwirklichen ist, welche praktischen Schritte dazu nötig sind, wie wir sie durchführen und so weiter. Solange wir nach einer Lösung suchen, gehen wir dem Problem selbst aus dem Wege und verlieren uns an Ideale, Überzeugungen und Erfahrungen, die alle der eigenen Vorstellung entstammen. Wir beten diese hausgemachten Götzen an und werden dadurch nur immer unsicherer und verdrossener. Zu einer Schlussfolgerung zu gelangen, ist verhältnismäßig leicht, ein Problem wirklich zu durchschauen, stellt uns jedoch vor eine weit härtere Aufgabe, die vor allem eine ganz andere Betrachtungsweise verlangt, eine Betrachtungsweise, hinter der sich vor allem kein heimliches Verlangen nach einer Lösung verbirgt.
Wenn man ein Problem durchschauen will, muss man sich also in erster Linie von dem Verlangen nach einer Lösung freimachen. Erst diese Freiheit setzt uns nämlich in Stand, dem Problem unsere volle Aufmerksamkeit zu widmen, weil unsere Gedanken nicht mehr durch nebensächliche Anliegen abgelenkt werden. Solange wir dem Problem innerlich widerstreiten oder in Gegensatz zu ihm stehen, können wir seiner nicht innewerden, denn der Widerstreit lenkt uns ab. Wir können nur wirkliche Einsicht in das Problem gewinnen, wenn wir ganz eins mit ihm werden, und dieses Einswerden ist unmöglich, solange wir dazu Stellung nehmen, das heißt ihm widerstreben, mit ihm hadern, Angst vor ihm empfinden oder uns darein schicken.
Wir müssen die richtige Beziehung zu unserem Problem herstellen, dann beginnen wir seiner innezuwerden. Wie aber könnten wir diese richtige Beziehung finden, wenn wir nur danach streben, uns von ihm zu befreien, worauf doch jede Lösung abzielt? Die richtige Beziehung haben, heißt eins sein, und dieses Einssein ist nicht möglich, solange passiver oder aktiver Widerstand besteht. Die Betrachtungsweise des Problems ist wichtiger als das Problem selbst, denn sie gestaltet das Problem, ihren Zweck. Mittel und Zweck sind nichts anderes als die Art, das Problem zu sehen. Sie entscheidet über das Schicksal des Problems. Es ist von entscheidender Bedeutung, wie wir ein Problem betrachten, weil wir es durch unsere eigene Haltung, unsere Vorurteile, Ängste und Hoffnungen unwillkürlich verfärben. Da jedes Problem selbstgeschaffen ist, brauchen wir dazu vor allem Selbsterkenntnis. Das Ich und sein Problem sind eins, das Ich ist das Problem.