Angst
Sie war um die halbe Welt gereist, um hierher zu kommen, und nun kam sie vor lauter Gehemmtheit und Zurückhaltung nicht aus sich heraus. Nur mit dem größten Zögern gab sie etwas von sich preis, zog sich aber sofort wieder in sich selbst zurück, wenn sie merkte, dass eine Frage in tiefere Schichten drang. Dabei war sie keineswegs schüchtern, sie wehrte sich nur, wenn auch unbewusst, dagegen, die Zustände Ihres Inneren bloßzulegen. Dennoch wollte sie über ihre Probleme reden, hatte sie doch eigens zu diesem Zweck die weite Reise hierher unternommen. Man spürte, wie gern sie sich ausgesprochen hätte, aber sie stockte bei jedem Satz und suchte mühsam nach dem rechten Ausdruck. Sie war noch nie analysiert worden, hatte aber eine Menge psychologischer Bücher gelesen und zeigte sich durchaus fähig zur Selbstanalyse. Es stellt sich sogar heraus, dass sie sich schon als Kind daran gewöhnt hatte, ihre Gedanken und Gefühle zu analysieren.
Warum, fragte ich, sind Sie so eifrig darauf bedacht, sich zu analysieren?
»Das weiß ich nicht, ich habe es jedenfalls getan, solange ich denken kann.«
Soll Ihnen die Analyse etwa dazu dienen, sich vor sich selbst zu schützen, ich meine, unbeherrschte Gefühlsausbrüche samt der nachfolgenden Reue zu verhindern?
»Das ist sicherlich die Absicht, die hinter meinem dauernden Fragen und Analysieren steckt. Ich habe nämlich keine Lust, mich in die bodenlose Unordnung gesellschaftlicher und persönlicher Art hineinziehen zu lassen, die mich zu Hause umgibt. Ich finde das alles so abscheulich, dass ich mich um jeden Preis davon fernhalten
möchte. Die Analyse dient mir als Mittel, fest zu bleiben und mich nicht vom Wirbel des gesellschaftlichen und familiären Durcheinanders erfassen zu lassen.«
Und ist Ihnen das gelungen?
»Das kann ich nicht mit Bestimmtheit behaupten. In einiger Hinsicht hatte ich Erfolg, in anderer ging es mir leider nicht so gut. Jetzt, da wir über das alles sprechen, wird mir erst klar, dass ich mich zu meinem Schutz eines außergewöhnlichen Mittels bediene. Darüber hatte ich mir bisher noch nie Rechenschaft gegeben.«
Warum sind Sie mit soviel Klugheit um Ihren Schutz besorgt, und wogegen wollen Sie sich schützen? Sie sagen: gegen den Wirrwarr, der um Sie herum herrsche; was ist denn besonderes an dieser Unordnung, dass Sie sich dagegen schützen müssten? Wenn es Unordnung ist und wenn Sie sie deutlich als solche erkennen, dann wüsste ich nicht, aus welchem Grunde Sie davor auf der Hut sein müssten. Man hütet sich doch nur vor Dingen, die man fürchtet oder die man nicht begreift. Wovor fürchten Sie sich also?
»Ich glaube nicht, dass ich mich fürchte. Ich möchte mich nur nicht in die Misere hineinziehen lassen, die sich überall breit macht. Mein Beruf sichert mir meinen Lebensunterhalt, aus jeder anderen Verstrickung halte ich mich heraus, und das ist mir wohl auch im großen und ganzen gelungen.«
Wenn Sie keine Angst haben, warum wehren Sie sich dann so entschieden gegen eine Verstrickung? Man wehrt sich doch nur gegen etwas, wenn man nicht weiß, wie man damit fertig wird. Wenn Sie wissen, wie ein Motor arbeitet, dann sind Sie innerlich von ihm frei. Entsteht ein Schaden, so können Sie ihn ja beheben. Wir wehren uns nur gegen das, was wir nicht begreifen. Wir wehren uns gegen Wirrnis, Übel und Elend nur, wenn wir nicht wissen, wie sie Zustandekommen und was es mit ihnen auf sich hat. Auch Sie kämpfen gegen die Unordnung an, weil Sie noch keine Einsicht in ihr Gefüge, ihr eigentliches Wesen gewonnen haben. Warum fehlt Ihnen eigentlich diese Einsicht?
»Unter diesem Gesichtspunkt habe ich mir das noch nie überlegt.«
Sie können das Arbeiten der Unordnung, ihren Mechanismus nur kennen lernen, wenn Sie zu ihr in unmittelbarer Beziehung stehen. Zwei Menschen lernen einander ja auch nur verstehen, wenn sie miteinander verkehren. Wenn der eine sich gegen den anderen zur Wehr setzt, kommt kein Verstehen zustande. Ein Verkehr oder eine Beziehung ist aber nur denkbar, wenn keine Angst dazwischen steht.
»Ich begreife jetzt, was Sie sagen wollen.«
Wovor haben Sie also Angst?
»Was verstehen Sie unter Angst?«
Angst entsteht nur aus einer Beziehung nach außen, eine gegenstandslose Angst, eine Angst an sich, gibt es nicht. Also kommt auch die sogenannte abstrakte Angst nicht vor, wir fürchten uns immer wieder vor etwas Bekanntem oder Unbekanntem, vor dem, was wir getan haben oder eines Tages tun könnten, vor Vergangenem oder Zukünftigem. Ursache von Angst ist die Spannung zwischen dem, was man ist, und dem, was man sein möchte, Angst entsteht, wenn wir das, was wir sind, als Belohnung oder Strafe auffassen. Angst geht mit der Verantwortung und dem Wunsch, von ihr loszukommen, Hand in Hand. In dem Widerspiel von Lust und Unlust wohnt die Angst genauso wie im Aufeinanderprallen von Gegensätzen. Anbetung des Erfolges erzeugt die Angst vor dem Misserfolg. Angst stachelt unsere Gedanken, wenn wir uns abmühen, etwas zu werden. Im Gutwerden lauert die Angst vor dem Bösen, im Streben nach der Erfüllung die Angst vor der Einsamkeit, im Großwerden die Angst, doch noch klein zu sein. Vergleichen heißt nicht begreifen, dennoch hoffen wir, unsere Angst vor dem Unbekannten durch Vergleich mit dem Bekannten zu bannen. Angst ist unsere Ungewissheit im Streben nach Gewissheit.
Das Streben, zu werden, ist der Ursprung aller Angst, der Angst um Sein oder Nichtsein. Der Verstand als Niederschlag der Erfahrung schwebt in ständiger Angst vor den Forderungen des Namenlosen und Unbenennbaren. Der Verstand, dessen Werkzeuge Namen, Worte und Erinnerungen sind, kann nur im Bereich des Bekannten tätig sein, daher muss er die Forderungen des Unbekannten, die ihn von Augenblick zu Augenblick bedrängen, mit den Hilfsmitteln der bekannten Welt abwehren oder in ihre Sprache übersetzen. Das Abwehren und Übersetzen dieser geheimnisvollen Forderungen aber ist Angst, denn der Verstand hat keine Verbindung mit dem Unbekannten. Das Bekannte kann mit dem Unbekannten nicht in Verkehr treten, das Bekannte muss still sein, damit sich das Unbekannte entfalten kann.
Der Verstand ist der eigentliche Urheber der Angst, und wenn er selbst die Angst analysiert, um sich von ihr zu befreien, dann isoliert er sich dadurch erst recht von der Umwelt und vermehrt so die Angst. Wenn Sie die Selbstanalyse dazu benutzen, die Unordnung abzuwehren, dann stärken Sie dadurch Ihre eigene Widerstandskraft. Aller Widerstand gegen die Unordnung aber steigert nur Ihre Angst davor, die aller Freiheit im Wege steht. Freiheit erwächst nur aus dem In-sich-hinein-nehmen, nicht aber aus Gegnerschaft und Angst.