Lebensangst – Teil 1

Das Flugzeug schraubte sich ohne fühlbare Bewegung in immer größere Höhen hinauf. Unter uns breitete sich, so weit das Auge reichte, ein Meer von weißen, schimmernden Wolken, die einen solchen Eindruck von Festigkeit erweckten, dass man glaubte, darauf Fuß fassen zu können. Als wir in weitem Bogen noch höher gelangten, tat sich in dem blendenden Weiß zuweilen ein Spalt auf, durch den wir tief, tief unten die grüne Erde erspähten. Über uns wölbte sich lieblich und über alle Maßen gewaltig das reine Blau des winterlichen Himmels. Ein wuchtiges Bergmassiv erstreckte sich funkelnd im Sonnenlicht von Norden nach Süden. Diese Berge waren fast fünftausend Meter hoch, aber wir waren schon höher als sie und kletterten immer noch weiter. Ihre Zacken und Gipfel waren uns ein vertrautes Bild, und doch wirkten sie von hier oben überraschend nah und wie neu geschaffen. Die höchsten Gipfel lagen im Norden, wir aber schossen südwärts davon, als wir die erstrebte Höhe von sechstausend Metern erreicht hatten.

Der Passagier auf dem Nachbarsitz erwies sich als überaus gesprächig. Die Berge waren ihm noch unbekannt, und er hatte eine ganze Weile geschlafen, während das Flugzeug seine Höhe gewann. Jetzt aber war er wieder ganz wach und brannte auf eine ausgiebige Unterhaltung. Es stellte sich heraus, dass er zum ersten Male in einer bestimmten geschäftlichen Angelegenheit unterwegs war. Nach dem, was er sagte, schien er vielseitig interessiert zu sein, jedenfalls zeigte er sich auf allen möglichen Gebieten bestens unterrichtet. Jetzt lag dunkel und fern das Meer unter uns, ein paar Schiffe grüßten als winzige leuchtende Punkte zu uns herauf. Die Maschine lag so ruhig in der Luft, dass man nicht einmal das Zittern der Tragflächen spürte; wir flogen die Küste entlang und glitten an den schimmernden Lichtinseln einer Anzahl von Städten und Siedlungen vorüber.

Unterdessen ließ sich mein Nachbar darüber aus, wie schwer es ihm falle, seine ständige Angst zu überwinden, er meine jetzt nicht speziell die Angst vor einem Flugzeugunfall, sondern den Druck, den er beim Gedanken an die Gefahren des Lebens im allgemeinen empfinde. Er war verheiratet und hatte Kinder, das insbesondere war für ihn eine Quelle unaufhörlicher Angst – nicht nur vor der Zukunft, sondern vor allem und jedem. Seine Angst war unbestimmt, das heißt, sie hatte keinen eigentlichen Gegenstand und verdarb ihm im wahrsten Sinne des Wortes sein ganzes Dasein, obwohl er sich nicht über Mangel an Erfolgen beklagen konnte. Gewiss, er sei von Hause aus eine etwas ängstliche Natur, meinte er, aber in letzter Zeit weiche die Angst überhaupt nicht mehr von ihm, und seine Träume seien geradezu fürchterlich. Seine Frau wisse wohl um diesen Zustand, mache sich aber keine rechte Vorstellung von dessen Ernst.

Angst gibt es nur in Beziehung auf ein Objekt. Angst ohne Gegenstand ist nur ein Wort, und dieses Wort ist nicht die Angst selbst. Wissen Sie denn wirklich nicht, wovor Sie sich fürchten?

»Ich habe noch nie sagen können, dies oder jenes sei es. Auch meine Träume sind nur ein wüstes Durcheinander, das aber diese ungreifbare Angst wie ein roter Faden durchzieht. Ich habe mit Freunden und Ärzten darüber gesprochen, aber sie haben mich entweder ausgelacht oder mit billigen Ratschlägen abgespeist. Bis jetzt habe ich vergebens versucht, eine greifbare Ursache meiner scheußlichen Zustände ausfindig zu machen – dabei möchte ich sie doch so gerne los sein.«

Wollen Sie sie wirklich los sein oder ist das nur so eine Redensart?

»Nein, nein, es ist mir bitter ernst damit. Ich sage Ihnen, ich gäbe viel darum, wenn ich diese Angst loswerden könnte. Obwohl Religion sonst nicht meine starke Seite ist, habe ich sogar schon darum gebetet. Wenn mich meine Arbeit, oder sagen wir ein Spiel ganz in Anspruch nimmt, dann fühle ich mich zuweilen frei davon, aber das Scheusal wartet geduldig in seinem Versteck, und allzu bald ist es wieder mein unzertrennlicher Gefährte.«

Ängstigen Sie sich gerade jetzt in diesem Augenblick? Haben Sie den Eindruck, dass die Angst irgendwo auf Sie lauert? Ist sie bewusst oder unbewusst?

»Ich spüre den Druck immer ganz genau, aber ob die Angst bewusst oder unbewusst ist, das könnte ich nicht sagen.«

Wenn Sie die Angst verspüren, haben Sie dann den Eindruck von Ferne oder von unmittelbarer Nähe, beides nicht räumlich, sondern als Gefühl verstanden?

»Sobald ich auf sie achte, scheint sie mir unerträglich nah zu sein – aber sagen Sie, was sollen diese Fragen bedeuten?«

Angst ist nur in Beziehung zu einem Objekt denkbar. Dieses Objekt kann etwa Ihre Familie sein, oder Ihre Arbeit, irgendwelche Zukunftssorgen, vielleicht auch der Tod. Fürchten Sie den Tod?

»Nicht besonders, allerdings würde ich ein rasches, plötzliches Ende einem langsamen Sterben vorziehen. Die Familie? Nein, warum sollte ich mich ihretwegen ängstigen? – Und meine Arbeit gibt mir erst recht keinen Anlass dazu.«

Wenn keine dieser oberflächlichen Beziehungen schuld daran sind, dann muss die Ursache tiefer liegen. Es könnte sogar gelingen, sie Ihnen aufzuzeigen, aber wenn Sie irgend können, suchen Sie sie selbst zu finden, dann wäre nämlich der Eindruck der Entdeckung wesentlich größer. Warum machen Ihnen die Beziehungen der Oberfläche, von denen wir sprachen, keine Angst?

»Meine Frau und ich lieben die Kinder, sie denkt nicht daran, einen anderen Mann anzuschauen, und ich kümmere mich nicht um andere Frauen. Wir ergänzen einander ausgezeichnet. Die Kinder machen uns wohl Sorgen, aber man tut eben für sie, was man kann. Bei dieser wirtschaftlichen Unsicherheit in der ganzen Welt kann man ihnen leider keine gesicherte Existenz schaffen, darum kommt es am Ende auf ihre eigenen Leistungen an. Mein eigener Posten ist ziemlich sicher, bleibt also nur die verständliche und ganz natürliche Angst, dass meiner Frau etwas zustoßen könnte.«

Die Tiefe Ihrer Beziehung zu Ihrer Frau steht also für Sie außer Zweifel. Warum fühlen Sie sich in diesem Punkte so sicher?

»Das weiß ich selbst nicht, es ist eben so. Schließlich gibt es gewisse Dinge, die man als gegeben hinnimmt, nicht wahr?«

Damit ist nichts erklärt. Sollen wir der Frage weiter nachgehen? Warum sind Sie Ihrer engen Zugehörigkeit zu Ihrer Frau so sicher? Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, Sie ergänzten einander?