Lebensangst – Teil 2
»Wir finden in der Gemeinsamkeit unser Glück, wir helfen einander, wir verstehen einander, kurzum, wir brauchen einander. In einem tieferen Sinne hängen wir dadurch wohl auch voneinander ab. Es wäre ein entsetzlicher Schlag, wenn einem von uns etwas zustieße. So gesehen, kann man uns in der Tat als abhängig betrachten.«
Was verstehen Sie unter ›abhängig‹? Meinen Sie, dass Sie ohne Ihre Frau verloren wären, dass Sie sich ganz und gar verlassen fühlten? Ist es das? Und ihr ginge es wahrscheinlich ebenso, insofern sind Sie wirklich voneinander abhängig.
»Ja, aber ist denn das so schlimm?«
Wir wollen hier nicht urteilen oder verdammen, sondern ausschließlich fragen. Aber ist es Ihnen auch recht, wenn wir diese Spur weiter verfolgen? Sind Sie wirklich damit einverstanden? Gut, dann wollen wir fortfahren.
Ohne Ihre Frau wären Sie also allein und im tiefsten Sinne des Wortes verloren, darum ist sie Ihr Ein und Alles, nicht wahr? Diese Frau ist Ihr ganzes Glück, darum hängen Sie an ihr. Und diese Abhängigkeit pflegt man Liebe zu nennen. Sie haben Angst, allein zu sein. Ihre Frau ist immer zur Stelle, um die Tatsache Ihrer Einsamkeit vor Ihnen zu verdecken, und Sie erweisen ihr umgekehrt den gleichen Dienst. Aber die Einsamkeit als solche wird davon nicht berührt, sie bleibt. Ja, so benutzen wir einander, um unsere Einsamkeit vor uns selbst zu verbergen, wir fliehen vor dieser Einsamkeit auf vielen Wegen und durch viele Arten von Beziehungen – und jede solche Beziehung macht uns durch den Dienst, den sie uns leistet, von sich abhängig. Ich höre zum Beispiel Radio, weil mich die Musik meiner selbst enthebt und dadurch glücklich macht, oder ich vergrabe mich in Bücher und Gelehrsamkeit, um mich wie der Vogel Strauß vor mir selbst zu verstecken. Und jedes Mal entsteht daraus eine Abhängigkeit.
»Was ist dabei Schlimmes? Warum soll ich nicht vor mir selbst davonlaufen? Ich wüsste nicht, worauf ich stolz sein könnte, darum kehre ich diesem wenig erfreulichen Ich den Rücken und halte mich lieber an meine Frau, die viel besser ist als ich.«
So machen es in irgendeiner Form weitaus die meisten Menschen. Aber der Haken ist, dass Sie bei dieser Flucht vor sich selbst in Abhängigkeit geraten sind. Mit der zunehmenden Angst vor dem, was ist, wird die Abhängigkeit immer stärker, die Flucht immer wichtiger. Die Frau, das Buch, das Radio werden zu unentbehrlichen Requisiten eines Daseins, das ganz auf Flucht abgestellt ist. Meine Frau dient nur dazu, mir selbst zu entrinnen, darum hänge ich an ihr. Ich muss sie mir erhalten, ich darf sie nicht verlieren, und sie lässt sich gern von mir halten, weil ich ihr zu dem gleichen Zweck diene wie sie mir. Wir haben beide das Bedürfnis, uns selbst zu entrinnen und helfen uns dabei gegenseitig. Dieses Voneinander-Gebrauch-machen bezeichnet man kühn als Liebe. Sie sind nicht mit dem zufrieden, was Sie sind, darum ergreifen Sie vor sich selbst, also vor dem, was ist, die Flucht.
»Das klingt nicht übel, ich wüsste nicht, was dagegen einzuwenden wäre. Aber eins haben Sie noch nicht gesagt: Warum läuft man davon? Und vor allem – wovor?«
Vor Ihrer eigenen Einsamkeit, Ihrer inneren Leere, kurzum, vor dem, was Sie sind. Wenn Sie davonlaufen, ohne noch recht erkannt zu haben, was ist, dann können Sie selbstverständlich dessen, was ist, auch nicht innewerden. Folglich müssen Sie vor allem einmal in Ihrem Lauf innehalten, Ihre Flucht unterbrechen, weil Sie nur auf diese Art gewahr werden können, wie Sie wirklich sind. Aber Sie können das, was ist, auch dann nicht richtig beobachten, wenn Sie es ständig kritisieren, wenn Sie es lieben oder nicht lieben. Sie nennen Ihren Zustand Einsamkeit und ergreifen die Flucht davor, eben diese Flucht vor dem, was ist, ist aber nichts anderes, als Angst vor dem, was ist. Sie fürchten Ihre Einsamkeit, Ihre Leere und verdecken beides vor Ihren eigenen Blicken, indem Sie sich abhängig machen. So kommt es, dass Ihnen die Angst ständig auf den Fersen bleibt, sie läuft Ihnen nach, solange Sie vor dem, was ist, auf der Flucht sind. Das Einssein, die völlige Gleichsetzung Ihres Ichs mit einer Person oder Idee gibt Ihnen nicht einmal die Gewähr, dass Ihnen Ihre Flucht endgültig gelingt, denn im Hintergrunde lauert ständig die Angst. Sie schleicht sich durch Träume zu Ihnen ein, wenn die Gleichsetzung mit dem Ersatz-Ich vorübergehend nicht funktioniert, und das kommt natürlich andauernd vor, sofern nicht eine echte geistige Störung vorliegt.
»Also kommt meine Angst von meiner eigenen Hohlheit, meinem Ungenügen. Ich sehe das vollkommen ein, und es ist sicherlich richtig – aber was kann ich nun dagegen tun?«
Gar nichts. Was Sie auch unternehmen, ist Flucht. Diese Tatsache müssen Sie sich vor allem klarmachen Dann begreifen Sie auch, dass Sie selbst nichts von Ihrer Hohlheit Verschiedenes oder Getrenntes sind. Sie sind dieses Ungenügen. Der Beobachter selbst ist die beobachtete Leere. Wenn Sie dann weiter fortschreiten, werden Sie Ihren Zustand nicht mehr als Einsamkeit bezeichnen – das Namengeben hat aufgehört. Bleiben Sie auf diesem Wege, was allerdings ziemlich beschwerlich ist, dann ist jenes als Einsamkeit bekannt gewesene Gefühl überhaupt nicht mehr da, es gibt keine Einsamkeit, keine Leere mehr, der Denker als gedachtes Ich hat aufgehört zu sein. So allein nimmt die Angst ein Ende. »Wenn es so ist, wie Sie sagen, was ist dann Liebe?« Liebe ist nicht Bindung, ist nicht Abhängigkeit von einem geliebten Du. Sie ist auch nicht der Gedanke an das geliebte Wesen. Wenn die Liebe da ist, denken Sie nicht daran, die Gedanken an Liebe kommen nur, wenn sie Ihnen fern ist, wenn ein Abstand zwischen Ihnen und dem Objekt Ihrer Liebe besteht. Solange die Liebenden vereint sind, gibt es keine Gedanken, keine Bilder, kein Aufleben der Erinnerung. Das Denken, die Phantasie beginnt erst zu arbeiten, wenn die Vereinigung in irgendeiner Schicht unseres Wesens eine Unterbrechung erleidet. Das Denken fängt also da an, wo die Liebe aufhört, denn Liebe ist etwas wesentlich anderes als das Denken. Das Denken macht nichts als Qualm: durch Neid, durch Festhalten, Missverstehen oder Ausgraben vergangener Dinge, durch Sehnsucht nach dem Morgen, durch Gram und Sorgen, es macht so viel Qualm, dass die Flamme schließlich ersticken muss. Wenn sich der Qualm verzieht, dann brennt die Flamme. Die beiden können nicht nebeneinander bestehen. Die Vorstellung, es könnte doch möglich sein, ist ein Wunsch, ein Ausgedachtes, wie alle Wünsche. Gedachtes aber kann niemals Liebe sein.