Seelische Geborgenheit
Er sagte, er hätte die Frage gründlich durchdacht, hätte alle ihm zugängliche Literatur darüber studiert und sei schließlich zu der Überzeugung gekommen, dass es hier und dort in der Welt echte Meister geben müsse. In körperlicher Gestalt zeigten sie sich nur ihrem engsten Schülerkreis, doch hielten sie dank ihrer besonderen Kräfte auch mit Außenstehenden Verbindung. Sie beeinflussten die Welt zum Guten und leiteten die führenden Männer des Geistes und der Tat, ohne dass sie dessen gewahr würden. Sie seien die eigentlichen Urheber von Revolutionen und die wirklichen Friedensmacher. Er sei überzeugt, sagte er, dass in jedem Erdteil eine Anzahl solcher Meister lebe, die seine Geschicke lenkten und ihm ihren Segen gäben. Er habe sogar einige Schüler solcher Meister kennengelernt – wenigstens, fügte er vorsichtig hinzu, hätten sie ihm gesagt, dass sie es seien. Er war von seinem Anliegen ganz erfüllt und brannte darauf, Näheres über die geheimnisvollen Meister zu erfahren. Wie spürte man sie auf? Wie fand man Zugang zu ihnen?
Wie still der Fluss dahinströmte! Zwei schillernde kleine Eisvögel strichen dicht über dem Wasser am Ufer auf und ab. Die Bienen sammelten Wasser für ihre Stöcke, und mitten im Strom lag ein Fischerboot. Die Uferbäume trugen dichtes Laub und warfen schwere, dunkle Schatten. Auf den Feldern stand der junge Reis in hellem Grün, und weiße Reisvögel flogen rufend darüber hin. Ringsum war alles Ruhe und Frieden, es schien wie eine Entweihung, inmitten dieser Herrlichkeit unsere winzigen Probleme zu erörtern. Über uns wölbte sich das zarte Blau der Abendstunde, die lärmenden Städte waren fern, jenseits des Flusses lag ein Dorf, ein schmaler gewundener Pfad zog sich am Ufer entlang. Ein Knabe sang mit einer klaren, hellen Stimme, die der Stille des Ortes keinen Eintrag tat.
Wir Menschen sind doch seltsame Geschöpfe, wir wandern wer weiß wie weit und suchen in aller Ferne, was wir mit Händen greifen könnten. Schönheit ist immer woanders, nie da, wo wir grade sind, die Wahrheit wohnt nicht bei uns, sondern irgendwo in der Ferne. Wir reisen ans Ende der Welt, um den Meister zu finden, und gehen am Diener hochmütig vorbei. Die einfachsten Dinge des Lebens, die Leiden und Freuden des Alltags sind uns noch ein Buch mit sieben Siegeln, dennoch streben wir nur danach, den Schleier des Geheimen und Verborgenen zu lüften. Wir kennen uns selbst nicht, aber wir sind bereit und willens, dem zu folgen, der uns einen Lohn, eine Hoffnung, ein Utopia verspricht. Wenn in uns selbst Verwirrung herrscht, kann auch das, was wir aufnehmen, nur verworren sein. Solange wir halbblind sind, können wir nicht klar sehen. Was wir wahrnehmen, ist nur ein Teil, aber nicht das Ganze, die Fülle. Das alles wissen wir, dennoch ist unser Begehren nach dem Höchsten und Letzten so übermächtig, dass es uns in Wahn und bitteres Elend zu treiben vermag.
Der Glaube an den Meister schafft den Meister, alles Erleben wird durch den Glauben vorgebildet. Der Glaube an eine bestimmte Handlungsweise oder eine Ideologie bringt das Ersehnte wirklich hervor, aber frage nicht, um welchen Preis an Kummer und Leid! Für einen Menschen mit überlegener Begabung ist der Glaube eine Macht, er wird in seinen Händen zu einer Waffe, die gefährlicher ist als ein Geschütz. Den allermeisten Menschen sagt ja ihr Glaube mehr als die Wirklichkeit. Um der Fülle des Seins wahrhaft innezuwerden, brauchen wir nicht zu glauben, dieses Innewerden wird im Gegenteil gerade durch Glauben, Ideen und Vorurteile am ernstlichsten behindert. Dennoch verzichten wir nicht auf Glaubenssätze und Dogmen, denn sie schenken uns Wärme, Hoffnung und Mut. Gelänge es uns, innezuwerden, wie es um unsere Überzeugungen wirklich bestellt ist, und warum wir uns so verbissen an sie klammern, dann wäre eine der Hauptursachen menschlicher Zwietracht beseitigt.
Das Streben nach Fortschritt, sei es des Einzelnen, sei es im Namen einer Gruppe, führt in Unwissenheit und Illusion, in Zerstörung und Elend. Dieses Streben richtet sich nicht nur auf immer größere Bequemlichkeit des äußeren Lebens, sondern auch auf Zuwachs an Macht durch Geld, durch Wissen, durch Gefolgschaft. Dieses Streben nach mehr ist der Anfang von Zwietracht und Leid. Wir versuchen wohl, diesem Leid durch allerlei Selbsttäuschungen zu entfliehen, sei es durch Unterdrückung unseres Begehrens, sei es, indem wir es sublimieren oder ihm einen anderen Namen geben, aber das Begehren wirkt, wenn auch vielleicht auf anderer Ebene, fort. Begehren bringt aber auch auf höchster Ebene immer Zwietracht und Pein. Am leichtesten gelingt uns diese Flucht in die Selbsttäuschung wohl mit Hilfe eines Guru oder Meisters. Andere flüchten sich in eine politische Ideologie und ihre praktischen Bestrebungen, wieder andere in den Zauber von Riten und geistlichen Übungen, noch andere in den Bannkreis eines Lehrers. Für alle diese Menschen werden solche Mittel zur Flucht sehr bald zum Selbstzweck, sie halten in ihrer Lebensangst starrsinnig und blind gegen alle Vernunft daran fest. Dann ist es ihnen gleichgültig, was sie sind, nur der Meister ist ihnen wichtig. Sie fühlen sich fortan nur noch als dienende Glieder, was immer das bedeuten mag, oder als Schüler. Als solche müssen sie bestimmte Aufgaben erfüllen, sich in das gegebene Schema einfügen und nicht selten Härten auf sich nehmen. Das alles und noch mehr nehmen sie gern in Kauf, denn Zugehörigkeit, das Einssein mit anderen, ist lustvoll und schenkt ihnen Macht. Im Namen des Meisters dürfen sie auch der Lust und der Macht mit gutem Gewissen frönen. Sie sind nicht mehr Einsame und Verlorene in der Wirrnis des Lebens, fortan gehören sie Ihm, der Partei, der Idee. Und damit sind sie geborgen.
Das aber ist es, was sich die meisten Menschen ersehnen. Sicherheit, Geborgenheit. Wer in der Masse aufgeht, fühlt sich geborgen, wer einer Gruppe zugehört, wer sich eine Idee, sei es geistlich oder weltlich, zu eigen macht, der schöpft daraus ein starkes Gefühl der Sicherheit. Darum halten so viele am Nationalismus fest, obwohl er nachgerade die Welt zu zerstören und ins Elend zu stürzen droht. Darum haben die organisierten Bekenntnisse ihre Schäflein so fest in der Hand, obwohl sie die Menschen uneins machen und in Zwietracht stürzen. Alles Verlangen nach persönlicher oder Gruppensicherheit führt notwendig zum Ruin, denn das Gefühl des Geborgenseins wächst nur auf dem Boden gefährlicher Illusionen. Unser Leben ist Unglück und eitler Wahn, allzu selten sind jene lichten Augenblicke, in denen uns die Freude reinen Seins durchströmt, daher nehmen wir so eifrig jede Lehre in uns auf, die uns, wenn auch nur von ferne, einen sicheren Hafen zeigt. So mancher kommt wohl zu der Einsicht, dass sein politisches Utopia für immer ein Wunschtraum bleiben wird und wendet sich darum der Frömmigkeit zu, um von nun an aus den Lehren der Meister, aus Dogmen und Ideen, Hoffnung und innere Gewissheit zu schöpfen. Da der Glaube das Erleben formt und vorwegnimmt, wird ihm der Meister zum Inbegriff erlebter Wahrheit, so dass ihn nichts und niemand mehr von ihm trennen kann. Hat der Mensch erst einmal die Freude gekostet, die ihm aus dem Gefühl des Einsseins zuströmt, dann kann ihn nichts mehr erschüttern und an seiner Überzeugung irremachen, hat er doch ihre Wahrheit an sich selbst erfahren. Was wir so erfahren, ist aber nicht die Wahrheit. Das einzig Wahre – das, was ist – entzieht sich aller menschlichen Erfahrung, es ist. Wenn der Erlebende denkt, er sei dieser Fülle des Seienden teilhaftig, dann ist seine vermeintliche Erkenntnis ebenso Illusion wie alles angebliche Wissen um das, was ist. Wissen, Erkennen und Erfahren müssen aufhören, damit sich die Fülle entfalten kann. Vom Erfahren führt kein Weg in die Fülle, Erfahren formt das Wissen, und Wissen verbiegt das Erleben. Beides muss ein Ende haben, auf dass wir der Fülle teilhaftig werden.