Probleme und ihre Verdrängung – Teil 1

»Ich habe viele ernste Probleme, und wenn ich sie zu lösen suche, dann werden sie nur um so quälender und schmerzlicher. Jetzt bin ich mit meiner Kunst zu Ende und weiß nicht mehr, was ich tun soll. Obendrein bin ich taub und brauche diesen scheußlichen Apparat, um überhaupt etwas zu hören. Ich habe Kinder und einen Mann, der mich im Stich gelassen hat; jetzt bin ich nur noch darum besorgt, dass meinen Kindern erspart bleibt, was ich durchmachen musste.«

Wie sehr sind wir doch darauf bedacht, eine Lösung unserer Probleme zu finden! Wir suchen mit solchem Eifer nach dieser Lösung, dass uns überhaupt keine Zeit dazu bleibt, das Problem selbst zu studieren. Dieses Suchen nach der Lösung hindert uns an der ruhigen Betrachtung des Problems. Dabei dreht sich doch in Wirklichkeit alles um das Problem und nicht um die Lösung. Wenn wir uns nach einer Lösung umsehen, dann finden wir sie auch, aber das Problem besteht dann unverändert weiter, denn die Lösung ist für das Problem selbst ohne Belang. In Wirklichkeit versuchen wir nämlich nur, uns um das Problem herumzudrücken, und was wir für eine Lösung halten, ist nur ein Mittel zur Heilung seiner oberflächlichsten Symptome, so dass von einer Einsicht in das Problem selbst keine Rede sein kann. Alle Probleme stammen aus ein und derselben Quelle, und solange wir dieses Ursprungs nicht innewerden, führt jeder Versuch einer Lösung nur tiefer in Elend und Wirrsal. Man muss sich zuallererst ehrlich darüber Rechenschaft geben, ob es einem ernstlich darum geht, des betreffenden Problems innezuwerden und ob man die Notwendigkeit erkannt hat, alle Probleme aus der Welt zu schaffen, denn nur wenn das der Fall ist, kommt man an den eigentlichen Urheber der Probleme heran. Solange man sich von den Problemen nicht frei macht, findet man keine Ruhe, und Ruhe ist eine wesentliche Voraussetzung für das Glück, das im übrigen nicht zum Selbstzweck erhoben werden darf. Wie ein Teich sich beruhigt, wenn die Brise zu wehen aufhört, so werden auch die Gedanken still, wenn die Probleme nicht mehr auf sie einstürmen. Das Denken kann aber nicht durch irgendwelche Mittel still gemacht werden; wenn das geschieht, dann liegt es tot da wie ein stagnierendes Gewässer. Erst wenn das alles klar ist, kann man den Urheber der Probleme ins Auge fassen. Das muss jedoch auf eine leise, unbeteiligte Art geschehen und nicht etwa nach einem vorgefassten Plan, denn das hieße ja, Lust und Unlust, Freude und Schmerz zum Wertmaßstab erheben.

»Sie verlangen das Unmögliche! Unser Denken ist doch von Geburt an dazu erzogen, zu unterscheiden, zu vergleichen, zu urteilen und zu wählen. Ich finde es äußerst schwierig, nicht zu verurteilen oder zu rechtfertigen, was ich beobachte. Wie könnte man sich von solchen Werturteilen frei machen, um schweigend und unbeteiligt zu betrachten?«

Wenn Sie erst erkannt haben, dass schweigende Betrachtung oder passives Aufgeschlossensein nötig ist, um der Wahrheit innezuwerden, dann befreit Sie die so erschlossene Wahrheit von jeder persönlich gefärbten Sicht der Dinge. Nur wenn Sie die unmittelbare Notwendigkeit passiven und doch wachen Aufgeschlossenseins nicht einsehen wollen, erhebt sich die von Ihnen gestellte Frage nach dem ›Wie‹, müssen Sie weiter nach einem Mittel suchen, das Geflecht von Vorurteilen aufzulösen, das den Hintergrund Ihres Problems darstellt. Befreien kann Sie nur die Wahrheit, nicht irgendein Mittel oder ein Plan. Die Wahrheit, dass Einsicht in das Wesen eines Problems nur durch schweigende, unbeteiligte Betrachtung desselben gewonnen werden kann, muss ganz und gar begriffen werden, weil wir nur dadurch dem Zwang, zu verurteilen oder zu rechtfertigen, entrinnen. Wenn Sie in Gefahr sind, fragen Sie ja auch nicht lange, wie Sie ihr entrinnen können. Nur weil Sie nicht einsehen wollen, dass Sie Ihren Problemen unbeteiligt und aufgeschlossen gegenübertreten müssen, fragen Sie mich jetzt, ›wie‹ Sie das machen sollen. Warum sträuben Sie sich so gegen diese Einsicht?

»Ich möchte Ihnen ja so gerne folgen, aber es fällt mir leider schwer, weil mir Ihre Art zu denken so gar nicht geläufig ist. Mir geht es einzig und allein darum, meine drückenden Sorgen loszuwerden, die mir wahrlich das Leben vergällen. Ich sehne mich so nach einem bisschen Glück, wie es die anderen auch genießen dürfen.«

Bewusst oder unbewusst sträuben wir uns dagegen, die Bedeutung passiver Aufgeschlossenheit für die Lösung unserer Probleme einzusehen, weil wir im Grunde unserer Seele gar nicht von diesen Problemen lassen möchten. Was wären wir auch ohne unsere Probleme? Also klammern wir uns lieber an etwas, das wir kennen, so schmerzlich es sein mag, statt neue Wege zu gehen, die uns wer weiß wohin führen können. Mit unseren Problemen sind wir wenigstens vertraut, der Gedanke aber, dass wir nun ihrem Urheber nachspüren sollen, ohne zu wissen, wohin das am Ende führt, jagt uns Angst ein und macht uns stumpf und träge. Ohne die ständige Sorge um seine Probleme fühlte sich unser Verstand wie verloren, denn Probleme sind sein tägliches Brot, seien es nun Welt- oder Küchenprobleme, politische oder persönliche, religiöse oder ideologische Probleme. So machen uns unsere Probleme kleinlich und beschränkt. Ein Verstand, der sich in Weltproblemen verzehrt, ist ebenso beschränkt wie ein anderer, der sich nur um seinen geistigen Fortschritt Sorgen macht. Alle Probleme belasten das Denken mit Angst, weil es dabei immer um die Erhaltung und Stärkung des ›Ich‹ und des ›Mein‹ geht. Ohne Probleme, ohne Erfolge und Misserfolge gibt es kein Ich.