Probleme und ihre Verdrängung – Teil 2

»Wie kann man denn ohne Ich überhaupt leben? Das Ich ist doch der Ursprung allen Handelns.«

Solange unser Handeln dem Begehren, der Erinnerung, der Angst, der Lust und dem Schmerz des Ichs entspringt, hat es unweigerlich Zwiespalt, Verwirrung und Gegnerschaft zur Folge. Unser Handeln, welchen Rang es auch immer einnimmt, ist stets durch unsere eigene Lage bedingt, und da es als Reaktion auf die Herausforderungen des Lebens immer unpassend und unvollständig ist, ruft es den Konflikt hervor, den wir als Problem erkennen. Konflikt, Widerstreit, macht das wahre Wesen des Ichs aus. Leben ohne Konflikte ist durchaus denkbar, ohne jene Konflikte etwa, die durch Habgier, durch Angst, durch Erfolg entstehen, aber diese Möglichkeit besteht so lange nur theoretisch und nicht praktisch, bis sie durch unmittelbares Erleben offenbar wird. Ein Leben ohne Habgier ist nur möglich, wenn wir zuvor innewerden, wie es um unser Ich und sein Verhalten bestellt ist.

»Glauben Sie, meine Taubheit könnte schuld an meinen Ängsten und Hemmungen sein? Die Ärzte haben mir versichert, es liege kein organischer Fehler vor. Darf ich also hoffen, dass ich mein Gehör wiedererlange? Auf die eine oder andere Art habe ich mein ganzes Leben hindurch unter Zwang gestanden, ich wüsste nicht, wann ich je hätte tun können, was ich wirklich wollte.«

Es ist äußerlich und innerlich leichter, etwas zu verdrängen als seiner innezuwerden. Alles Innewerden ist hart und mühsam, besonders für Menschen, die von Kindheit an Schweres zu tragen hatten. Verdrängen ist zwar ebenfalls nicht leicht, es kann aber zur Gewohnheit werden. Dagegen ist es ausgeschlossen, den Vorgang des Innewerdens zu einer Gewohnheit oder zur täglichen Übung zu machen, da alles Innewerden ständige Wachsamkeit und Bereitschaft voraussetzt. Überdies gehört dazu Anpassungsfähigkeit, Feinfühligkeit und eine Herzenswärme, die nichts mit Sentimentalität gemein hat. Verdrängung dagegen bedarf in keinem Fall gesteigerter Aufgeschlossenheit, sie ist die einfachste und dümmste Art zu reagieren. Verdrängen heißt um jeden Preis an einer vorgefassten Idee, an einer Norm festhalten, es bietet vorübergehend ein Gefühl der Sicherheit und dient der Wahrung unseres Ansehens. Innewerden wirkt befreiend, Verdrängung macht immer eng und ichbezogen. In unserer Angst vor der Autorität mit ihren Wertmaßstäben, vor Unsicherheit und fremden Meinungen schaffen wir uns eine Art geistiger Zuflucht samt den dazugehörigen körperlichen Symptomen, einen Ort, an dem unser Ich jederzeit Unterschlupf findet. Diese geistige Zuflucht mag aber noch so schön und edel sein, vor der Angst finden wir auch dort keine Rettung und müssen daher versuchen, ihrer durch Unterschiebung von Motiven, durch Sublimierung oder Selbstzucht, mit einem Wort gesagt, durch irgendeine Form der Verdrängung Herr zu werden. Alle verdrängten Komplexe schaffen sich aber eines Tages Luft, sei es in Form eines körperlichen Leidens oder einer geistigen Illusion. Der Preis für die Verdrängung muss immer bezahlt werden, seine Höhe richtet sich nach dem Temperament des Betroffenen und der Heftigkeit seiner Idiosynkrasie.

»Ich habe bemerkt, dass ich mich in meine Taubheit flüchte, wenn ich etwas Unerfreuliches zu hören bekomme. Auf diese Art gelingt es mir, mich in meine eigene Welt zurückzuziehen. Wie aber kommt man von jahrelanger Verdrängung los? Nimmt das nicht eine sehr lange Zeit in Anspruch?«

Zeit spielt dabei überhaupt keine Rolle, wir brauchen weder in der Vergangenheit zu wühlen, noch jede Einzelheit gründlich zu analysieren. Es handelt sich nur darum, zur Einsicht in das wahre Wesen der Verdrängung zu gelangen. Wenn wir den ganzen Vorgang der Verdrängung als Unbeteiligte und ohne jeden Vorbehalt betrachten, wird uns diese Einsicht augenblicklich zuteil. Dagegen bleibt sie uns vorenthalten, solange unser Denken an den Vorstellungen des Gestern und des Morgen haftet. Die Erkenntnis der Wahrheit ist nicht an den Ablauf von Zeit gebunden. Wahrheit kann man nicht erstreben, sie wird erkannt oder nicht erkannt, echte Erkenntnis kann nicht allmählich erworben werden. Der Wille, uns aus den Fesseln der Verdrängung zu befreien, hindert uns daran, ihres wahren Wesens innezuwerden. Wille ist positiv oder negativ gerichtetes Begehren, und wo Begehren im Spiele ist, gibt es kein unbeteiligtes, passives Aufgeschlossensein. Das gleiche Begehren, dem wir jetzt den Ehrentitel ›Wille‹ geben, hat ja unsere Verdrängung verschuldet, wie könnte es also fähig sein, sich von dem selbstgeschaffenen Zustand zu befreien. Darum kommt es darauf an, das wahre Wesen des Willens in unbeteiligter, aber wahrer Aufgeschlossenheit zu durchschauen. Wir dürfen jedoch nicht versuchen zu analysieren, denn wenn wir uns dabei auch einer noch so objektiven und distanzierten Haltung befleißigen, so bleiben wir doch unter dem Einfluss dessen, was wir analysieren, und können uns innerlich nicht davon freimachen. Auch dieser Tatsache müssen wir innewerden. Befreien kann uns einzig und allein die Wahrheit, nicht aber unser Wille und die Anspannung unserer Kräfte.