Widerspruch

Er war ein bekannter und sehr angesehener Politiker, dem die Rolle, die er spielte, offenbar etwas zu Kopf gestiegen war, was in seinem ungeduldigen Wesen zum Ausdruck kam. Obwohl er hochgebildet war, hatte er sich eine arg geschraubte und schwülstige Ausdrucksweise angewöhnt. Anscheinend hatte er keine Zeit, sich um eine gewähltere Sprache zu bemühen, weil ihn das Friedenstiften viel zu sehr in Anspruch nahm. Er war ja die Öffentlichkeit, der Staat, die Macht in Person. Selbstverständlich wusste er fließend zu sprechen, aber dadurch wirkte seine Art zu reden nur um so gespreizter und gekünstelter. Er galt als unbestechlich, und dieser Ruf sicherte ihm das Vertrauen der Öffentlichkeit. Hier im Zimmer fühlte er sich seltsam unbehaglich, der Politiker war jetzt weit fort, und was übrig blieb, war ein einfacher Mensch, der seine Nervosität nur schlecht verhehlen konnte. Seine betonte Sicherheit und sein ganzes prahlerisches Wesen waren wie weggeblasen, er stellte voll Interesse seine Fragen, erwog das Gehörte gründlich und nahm keinen Anstand, auch über persönliche Dinge offen zu sprechen.

Die Sonne des späten Nachmittags schien durch das Fenster herein, und der Straßenlärm drang zu uns herauf. Die Papageien kamen von ihrem Tagesausflug zurück, sie schossen wie leuchtend grüne Blitze durch die Luft, um sich für die Nacht in den Bäumen der Stadt ein sicheres Plätzchen zu suchen, in jenen gewaltigen Baumriesen, die die Straßen säumen und die privaten Gärten zieren. Im Flug stießen die Papageien immerzu ihre hässlichen Schreie aus, sie flogen nie geradeaus, sondern immer im Zickzack aufwärts, abwärts und seitwärts, und schwatzten und kreischten dabei ohne Unterlass. Ihr Flug und ihr Geschrei standen in seltsamem Widerspruch zu ihrer Schönheit. Weit draußen auf See leuchtete ein winziges, weißes Segel. Eine Gruppe von Menschen füllte den Raum und zeigte Kontraste der Hautfarbe wie der Gedanken. Ein kleiner Hund kam herein, sah sich um und verschwand, kaum bemerkt, wieder durch die Tür. In der Ferne läutete eine Tempelglocke.

»Warum ist unser Leben so voll von Widersprüchen?« fragte mein Besucher. »Wir reden von den Idealen des Friedens und der Gewaltlosigkeit und legen gleichzeitig schon wieder den Grundstein zu einem neuen Krieg. Jawohl, das Leben verlangt, dass wir Realisten und keine Träumer seien. Alle wollen den Frieden, und doch führt unser tägliches Tun letzten Endes wieder zum Krieg. Wir möchten Licht haben und schließen dennoch die Läden. Unser ganzes Denken ist ein einziger innerer Widerspruch, ein Wollen und Nichtwollen zugleich. Wahrscheinlich liegt dieser Widerspruch in unserem Wesen begründet, dann haben wir nicht viel zu erhoffen, wenn wir versuchen, konsequent und im besten Sinne einseitig zu sein. Liebe und Hass scheinen immer Hand in Hand zu gehen. Woher kommt dieser Widerspruch? Ist er unvermeidlich, oder lässt er sich doch vermeiden? Kann sich der moderne Staat ohne Vorbehalt für den Frieden einsetzen? Darf er sich überhaupt auf eine einzige Richtung festlegen? Er muss für den Frieden arbeiten und zugleich den Krieg vorbereiten, sein Ziel ist Frieden durch Kriegsbereitschaft.«

Warum steuern wir denn überhaupt einen festen Punkt, ein Ideal an, wenn uns jede Abweichung vom Kurs in Konflikte stürzt? Bestünde weder der feste Punkt noch die Absicht, ihn zu erreichen, dann gäbe es auch keinen Konflikt. Wir setzen uns ein Ziel, fahren aber anderswohin und nennen das Widerspruch. Wir kommen auf Umwegen und unter irgendwelchen besonderen Umständen zu einem Grundsatz und versuchen dann, unser Leben diesem Grundsatz – dem Ideal – entsprechend zu gestalten. Da das nicht geht, ist der Konflikt schon gegeben. Nun bemühen wir uns, die Kluft zwischen dem Fixpunkt, dem Ideal, dem Grundsatz und dem Gedanken oder der Handlung, die ihm widersprechen, zu überbrücken. Dieses Überbrücken nennt man Konsequenz. Wie aufrichtig bewundern wir einen konsequenten Mann, der eisern an seinem Grundsatz, dem Ideal, festhält! Einen solchen Mann verehren wir fast wie einen Heiligen. Aber die Irren sind auch konsequent, sie halten erst recht an ihren fixen Ideen fest. Ein Mann, der sich zum Beispiel einbildet, er sei Napoleon, ist nie im Widerspruch mit sich selbst, er ist vielmehr die Verkörperung seiner Idee. Ein Mensch, der sich mit seinem Ideal ganz eins wähnt, ist offenbar seelisch nicht im Gleichgewicht.

Der Grundsatz, den wir Ideal nennen, kann auf jeder beliebigen Ebene gelten und mag bewusst oder unbewusst sein. Haben wir ihn uns erst einmal zu eigen gemacht, so versuchen wir, ihm unser Handeln irgendwie anzunähern, und das führt dann sofort zum Konflikt. Wichtig ist nun nicht, wie wir mit unserer Schablone, dem Ideal in Übereinstimmung kommen, wichtig ist vielmehr, herauszufinden, warum wir auf diesen festen Punkt, diese Überzeugung so viel Wert legen – denn wenn wir keine Schablone hätten, gäbe es für uns auch keinen Konflikt. Warum also haben wir unser Ideal, unsere Überzeugung? Hindert uns dieses Ideal nicht am Handeln? Mischt sich das Ideal nicht ein, um unser Handeln zu beeinflussen, zu kontrollieren? Wäre es nicht möglich, ohne ein Ideal zu handeln? Das Ideal ist von uns selbst geschaffen und durch Verurteilen und Rechtfertigen gewählt, es kann daher niemals ein geeignetes Mittel sein, uns von Widerstreit und Verwirrung zu befreien. Das Ideal, der Entschluss, so oder so zu sein, fördert vielmehr die Entfremdung des Menschen untereinander und damit den Zerfall der Gesellschaft.

Ist der Fixpunkt, das Ideal, nicht vorhanden und besteht daher auch kein Ziel, von dem man abweichen kann, dann können wir uns auch nicht gegen die inhärente Forderung der Konsequenz versündigen, denn nun gibt es nur noch ein Handeln von Augenblick zu Augenblick, und dieses Handeln wird immer ganz und rund und wahrhaftig sein. Denn das Wahre ist nicht etwa ein Ideal, ein Mythos, sondern immer nur die Forderung des Augenblicks, die Wirklichkeit. Wir sind durchaus in der Lage, dieser Wirklichkeit innezuwerden und uns mit ihr auseinander zu setzen. Erkenntnis von Tatsachen kann keine Gegnerschaft erzeugen, während die Jagd nach dem Ideal sofort die Widersacher auf den Plan ruft. Ideale bewirken nie einen echten Umsturz, sondern höchstens den etwas abgewandelten Fortbestand des Gewesenen. Eine dauernde Umwälzung von Grund auf wird nur durch ein Handeln erzielt, das keinem Ideal dient, sondern der Forderung des Augenblicks gerecht zu werden sucht und daher frei von aller Konsequenz ist.

»Aber es ist doch ausgeschlossen, einen Staat nach diesen Grundsätzen zu regieren! Ohne Programm, ohne planmäßiges Handeln und Zusammenfassung aller Kräfte zu seiner Verwirklichung geht es dabei nun einmal nicht ab. Was Sie sagen, mag für den einzelnen Menschen anwendbar sein, und ich sehe darin große Möglichkeiten für mich selbst, aber in der kollektiven Arbeit der Staatsführung ist es leider nicht zu verwirklichen.«

Planmäßiges Handeln bedarf doch immer wieder der Abwandlung, da es sich den Umständen des Augenblicks anpassen muss. Alles Handeln nach ein für allemal festgelegten Richtlinien führt unvermeidlich zum Fehlschlag, wenn Sie die physischen Gegebenheiten und die seelische Belastung unberücksichtigt lassen. Wenn Sie eine Brücke bauen wollen, genügt es ja auch nicht, eine Planzeichnung herzustellen, sondern Sie müssen dazu auch den Boden und das Gelände an der Baustelle untersuchen, weil sonst Ihre Planung unvollständig und ungenügend wäre. Vollkommen unanfechtbare Maßnahmen sind nur denkbar, wenn Sie im Zusammenhang damit auch der körperlichen Gegebenheiten der Menschen und ihrer seelischen Belastungen vollkommen innewerden. Dieses Innewerden hängt aber keineswegs von irgendwelchen Richtlinien oder Planungen ab, es verlangt vielmehr rasche Anpassungsfähigkeit oder mit einem anderen Wort bezeichnet Intelligenz, das heißt Einsicht. Nur wenn diese Einsicht fehlt, halten wir uns an Beschlüsse, Ideale oder Ziele. Der Staat ist nicht statisch, seine Führer mögen es sein, aber der Staat als solcher ist ein lebendes, dynamisches Wesen wie der einzelne Mensch. Was aber von Natur aus dynamisch ist, lässt sich nicht in die Zwangsjacke von Plänen und Richtlinien schnüren.

Wir neigen dazu, unseren Staat mit einer Mauer von Grundsätzen und Idealen zu umgeben, weil wir ihn damit zu fesseln hoffen, aber kein Lebewesen kann in Fesseln gehalten werden, ohne dass es zugrunde geht. Wir gehen also darauf aus, den Staat umzubringen, um ihn hernach unserem Plan, das heißt dem Ideal entsprechend zu formen. Nur tote Dinge lassen sich in eine Schablone pressen, und da Leben ständige Bewegung ist, beginnt der Konflikt, sobald wir dieses Leben einer Norm oder einem Grundsatz entsprechend zurechtstutzen wollen. Anpassung an eine Norm führt zum Zerfall des Individuums wie des Staates. Das Ideal steht nicht höher als das Leben, wenn wir es dennoch darüber stellen, stiften wir nur Verwirrung, Zwietracht und Elend.