Wunsch und Wirklichkeit

Es war eine Freude, mit diesen Menschen zu diskutieren, die meisten waren mit Feuereifer bei der Sache, einige hörten sogar auf Einwände. Zuhören können ist eine Gabe, die uns nicht in den Schoß fällt, sich darauf zu verstehen, ist wunderschön und zeugt von tiefer Einsicht. Wohl horchen wir mit den mannigfachen Tiefenschichten unseres Wesens, doch fast immer unter Einmischung unserer Voreingenommenheit oder unserer eigenen Standpunkte. Wir hören nicht schlicht und einfach zu, sondern wie durch ein Sieb von eigenen Gedanken, Schlussfolgerungen und Vorurteilen. Wir nehmen das Gesagte unter Zustimmung oder Widerspruch, mit Eifer oder Abscheu zur Kenntnis, aber alles das ist kein Hören. Wer wirklich hören will, bedarf völliger innerer Ruhe und einer entspannten Aufmerksamkeit, die das Gegenteil aktiver Wissbegierde ist. In diesem wachen und doch passiven Zustand gelingt es zu erlauschen, was sich jenseits aller schlüssigen Worte offenbaren will. Worte verwirren, sie sind nur das grobe äußerliche Handwerkszeug zur gegenseitigen Verständigung. Um jedoch das Unsagbare aufzufassen, das jenseits aller Wortgeräusche mitklingt, bedarf es der passiven und doch wachen Aufgeschlossenheit des Hörenden. Liebende mögen so hören können, aber wie selten ist es doch, dass uns so ein Mensch begegnet! Die meisten jagen immer hinter Ergebnissen, Zielen und Zwecken her, sie sind immerzu dabei, zu überwinden, zu erobern, und finden darüber natürlich keine Zeit, zu hören. Nur wer sich darauf versteht, zu hören, vernimmt den leisen Gesang der Worte.

»Ist es überhaupt möglich, sich von allem Begehren freizumachen? Kann man sich ein Leben ohne Begehren vorstellen? Ist Begehren nicht das Leben selbst? Wer sich vom Begehren zu befreien sucht, der wünscht sich doch den Tod. Sieht es nicht mindestens so aus?«

Was ist denn Begehren? Wann werden wir seiner gewahr? Wann sagen wir von uns selbst, dass wir begehren? Begehren bedarf eines Objekts, es ist immer an eine Beziehung gebunden. Begehren entsteht durch den Kontakt, durch die Beziehung. Ohne Kontakt gibt es kein Begehren. Ein solcher Kontakt mag beliebigen Ranges sein, auf jeden Fall gibt es ohne ihn keinen Eindruck, keine Reaktion und mithin kein Begehren. Wir wissen genau, wie das Begehren entsteht, es ist immer die gleiche Reihenfolge: Wahrnehmung, Kontakt, Eindruck, Begehren. Wie aber kommt uns das Begehren zum Bewusstsein, wie werden wir seiner gewahr? Wann sagen wir: »Ich begehre«? Doch nur, wenn wir durch Lust oder Unlust, durch Freude oder Schmerz innerlich gestört werden. Wir erkennen also unser Begehren als solches, wenn wir durch einen Konflikt, eine Störung unseres inneren Gleichgewichts darauf gestoßen werden.

Begehren ist die unzulängliche Reaktion auf eine Herausforderung. Der Anblick eines schönen Wagens verursacht beunruhigende Lustgefühle. Diese Störung ist das Bewusstwerden des Begehrens. Der Schauplatz der durch Lust oder Unlust verursachten Unruhe ist das Ichbewusstsein, also sind Ichbewusstsein und Begehren identisch. Wir sind uns der Unruhe bewusst, die die unzulängliche Reaktion auf die Herausforderung hervorruft, und der Konflikt ist das Aufbegehren des Ichs gegen diesen Zustand. Die Frage ist, wie wir uns von dieser störenden Unruhe, dem Konflikt des Begehrens befreien können.

»Sie sprechen nur vom Konflikt des Begehrens, warum nicht vom Begehren selbst?«

Sind denn Konflikt und Begehren zwei verschiedene Zustände? Wenn ja, dann mündete unsere Untersuchung in die Illusion. Gäbe es keine Unruhe durch Lust- oder Unlustgefühle, durch Wünschen, Suchen, Erfüllen im negativen wie im positiven Sinn, könnte man dann überhaupt von Begehren sprechen? Möchten wir diese Unruhe überhaupt beseitigt wissen oder nicht? Wenn wir darüber Klarheit schaffen, dann sind wir vielleicht in der Lage, die Bedeutung des Begehrens zu ermessen. Konflikt ist überbetontes Ichbewusstsein, die durch einen beunruhigenden Eindruck hervorgerufene innere Spannung des Ichs ist das Begehren. Ist es nun etwa so, dass Sie aus dem Gesamtkomplex des Begehrens zwar die Unlustgefühle, den Konfliktstoff ausgeschaltet, alle Lust aber gewahrt wissen möchten? Beides, sowohl Lust wie Unlust, verursacht doch eine Störung des Gleichgewichts und damit Unruhe. Oder meinen Sie etwa, Lust könne nicht beunruhigend wirken?

»Allerdings. Wie sollte uns Lust aus dem Gleichgewicht bringen?«

Ich fürchte, Sie sind im Irrtum. Haben Sie nie bemerkt, wie viel Leid sich hinter aller Lust verbirgt? Ist nicht alles Begehren nach Lust unersättlich, verlangt es nicht unablässig nach mehr? Und ist dieses Verlangen nach mehr nicht ebenso störend wie das Bedürfnis, einem Übel zu entgehen? Beides stürzt uns in Spannungen und Konflikte. Wir möchten das lustvolle Begehren erhalten, das schmerzliche aber beiseiteschieben, wenn wir jedoch näher zusehen, erweist sich beides als gleich störend. Wäre es Ihnen nicht doch lieber, dem störenden Begehren überhaupt ein Ende zu machen?

»Wenn wir nicht mehr begehren, sterben wir, ohne Konflikte ist unser Leben ein Schlaf.«

Ist das Ihre Erfahrung oder nur eine Idee, ein Gedankengebilde? Wir malen uns aus, wie es wäre, wenn wir keine Konflikte hätten, und berauben uns dadurch von vornherein der Fähigkeit, wirklich einen Zustand zu erleben, in dem aller Konflikt aufgehört hat. Es scheint mir das wichtigste zu sein, dass wir uns fragen, was denn eigentlich den Konflikt verursacht. Sollten wir nicht imstande sein, etwas Schönes oder Hässliches zu sehen, ohne dass es sofort zur Unruhe und zum Konflikt kommt? Sollte es uns nicht gelingen, ohne Einmischung unseres Ichbewusstseins zu beobachten oder zuzuhören? Sind die Störungen wirklich nicht zu vermeiden oder gibt es eine Art zu leben, die frei von allem Begehren ist? Die rechte Beantwortung dieser Frage setzt vor allem Einsicht in das Wesen der Störung voraus, die dem Begehren zugrunde liegt. Auf keinen Fall dürfen wir etwa versuchen, das Begehren zu überwinden oder ihm einen überhöhten Wert zu verleihen. Der Konflikt des Begehrens lässt sich weder veredeln noch unterdrücken, wir kommen nur zu einer Lösung, wenn wir seiner innewerden.

Woher kommt denn der Konflikt? Wie wir gesehen haben, entsteht er, wenn unsere Reaktion auf die Herausforderung des Lebens nicht zureicht, und ist seinem Wesen nach nichts anderes als überbetontes Ichbewusstsein. Dieses Ich, dessen Bewusstheit im Konflikt so geschärft wird, ist ganz und gar Erfahrung, alle Erfahrung ist aber die Reaktion auf einen Reiz oder eine Herausforderung und drückt sich stets in einem Namen, einem Wertbegriff aus. Diese Namen stammen aus dem großen Lagerhaus des Gedächtnisses, Namen geben heißt, in Worte fassen, Symbole, Bilder und Ausdrücke schaffen und damit die Erinnerung bereichern und stärken. Die durch den Konflikt geschärfte Bewusstheit des Ichs ist nichts anderes als seine Erfahrung, sein Namengeben und Aufzeichnen.

»Wo liegt denn dabei die eigentliche Ursache des Konflikts? Können wir uns von diesem Konflikt befreien? Und was erwartet uns, wenn wir ihn überwunden haben?«

Ich meine doch, das Namengeben wäre die eigentliche Ursache des Konflikts. Sie treten jeder Herausforderung des Lebens, welchen Ranges sie immer sei, mit einer Erinnerung, einer Idee, einer Schlussfolgerung, einem Vorurteil entgegen, das heißt, Sie geben ihr einen Namen und fällen damit zugleich ein Werturteil über das, was Ihnen begegnet, wobei der Name, die Bezeichnung, die Sie ihm geben, den Wertmaßstab bildet. Namengeben heißt in der Erinnerung aufzeichnen. Das Vergangene begegnet dem Neuen, die Erinnerung, die Vergangenheit, stellt sich der Herausforderung des Lebens. Diese aus der Vergangenheit stammende Reaktion ist aber der Fülle des Lebendigen und Neuen, von der sie herausgefordert wird, nicht gewachsen, Erinnerung erweist sich als unzulänglich, und das ist die Ursache des Konflikts, der sich als geschärftes Ichbewusstsein offenbart. Aller Konflikt hat ein Ende, wenn keine Namen gegeben werden. Sie können an sich selbst beobachten, dass Sie fast gleichzeitig mit der Reaktion auch schon das Wort, den Namen dafür bereithaben. In dem winzigen Zeitraum zwischen der ersten Reaktion und ihrer Bezeichnung spielt sich das Erleben ab. Erleben, an dem weder der Erlebende noch seine Erfahrung beteiligt sind, steht jenseits allen Konflikts. Jeder Konflikt ist ein Aufbegehren des Ichs gegen das, was ist, findet er ein Ende, so ruht zugleich alles Denken, In dieser Sekunde tut sich das Unerschöpfliche auf.