Verzicht auf Reichtum

Wir saßen im Schatten eines mächtigen Baumes und blickten über das grüne Tal hinaus. Die Spechte hämmerten eifrig drauflos, und zwischen zwei Bäumen eilten Ameisen in langer Linie emsig hin und her. Der Wind stand von der See herein und brachte den Geruch von fernem Nebel mit. Die Berge träumten blau am Horizont, sie schienen uns oft so nah, heute lagen sie jedoch in weiter Ferne. Ein kleiner Vogel trank aus der winzigen Pfütze unter einem lecken Wasserrohr. Zwei graue Eichhörnchen mit dicken, buschigen Schweifen jagten einander an einem Baumstamm auf und ab, sie kletterten bis zum Gipfel hinauf, sausten dann bis fast zu den Wurzeln herab und begannen das lustige Spiel sofort aufs neue.

Er war einst sehr reich gewesen und hatte eines Tages freiwillig seinem Reichtum entsagt. Dabei hatte er die Verantwortung gern getragen, die ihm seine vielen irdischen Güter auferlegten, denn er war ein guter, wohltätiger Mensch und hatte auch kein hartes Herz. Er gab, ohne lange zu überlegen, und vergaß rasch, was er gegeben hatte. Seinen Mitarbeitern war er ein anständiger, fürsorglicher Chef, ihm selbst fiel es in dieser geldbesessenen Welt offenbar leicht, gut und reichlich zu verdienen. Er war nicht etwa wie jene reichen Leute, denen ihre Bankkonten und Geldanlagen über den Kopf gewachsen sind, die sich scheu vor der Mitwelt und ihren immer neuen Ansinnen verkriechen und lieber in der besonderen Atmosphäre ihrer Luxuswelt eine Art Klosterleben führen. Er war keine Bedrohung für seine Familie und durchaus kein Mensch, der leicht die Flinte ins Korn wirft. Viele nannten sich seine Freunde, und man konnte ihnen wirklich glauben, dass sie es nicht wegen seines Geldes waren. Er erzählte, er habe sein ganzes Vermögen weggeschenkt, weil er eines Tages bei irgendeiner Lektüre plötzlich in aller Deutlichkeit erkannt habe, wie verzweifelt töricht es sei, sein Leben mit Geldverdienen und Geldverwalten zu verzetteln. Jetzt besitze er nur noch Weniges und versuche, ein einfaches Leben zu führen, um so vielleicht dem Sinn dieses ganzen Treibens auf die Spur zu kommen und herauszufinden, ob es nicht doch etwas gebe, das über die rein physischen Bedürfnisse hinausreiche.

Es ist verhältnismäßig einfach, mit Wenigem zufrieden zu sein. Wenn man unterwegs ist und nach Neuem Ausschau hält, verzichtet man gern und leicht auf so manchen Ballast. Wer immer den Weg nach innen einschlägt, fühlt das unabweisbare Bedürfnis, sich aus der Wirrnis von Besitz und Reichtum zu lösen, aber frei sein von äußeren Dingen heißt noch keineswegs, ein einfaches Leben führen. Äußere Einfachheit und Ordnung gehen nicht etwa Hand in Hand mit innerer Ruhe und Herzenseinfalt. Es ist bestimmt gut, ein einfaches Leben zu führen, weil es uns eine gewisse Freiheit gibt und weil wir damit der Echtheit unserer Gesinnung Ausdruck geben. Aber wie kommt es eigentlich, dass wir immer mit der äußeren, nie mit der inneren Einfachheit den Anfang machen? Tun wir es, um uns selbst und andere zu überzeugen, dass es uns ernst ist? Wozu bedürfen wir solcher Überzeugung? Nicht Gesten und Überzeugungen, sondern nur Einsicht befreit uns von der Tyrannei der Dinge, Einsicht aber ist unabhängig von der Person und ihrer Haltung. Wer der Last des Reichtums wirklich innewird, der gelangt schon durch dieses Innewerden zur Freiheit und hat keine dramatischen Gesten und Gelübde nötig. Wenn allerdings dieses aus der Einsicht geborene ›Innewerden‹ nicht zustandekommt, dann sehen wir unsere Rettung nur zu gern in Weltflucht und Askese. Die Betonung liegt jedenfalls nicht auf der Menge des Eigentums, sondern auf der Einsicht des Besitzenden. Der Einsichtige aber, der sich mit Wenigem begnügt, ist schon dadurch frei von allem überflüssigen Besitz.

Aber Genügsamkeit ist etwas ganz anderes als Einfachheit. Der Wunsch nach Genügsamkeit oder nach Einfachheit legt dem Wünschenden Fesseln an, denn jeder Wunsch, jedes Verlangen, bedeutet schon an sich Unzufriedenheit und Verwicklungen. Genügsamkeit entsteht aus dem Innewerden dessen, was ist, Einfachheit aus dem Freiwerden von dem, was ist. Es ist gut, äußerlich einfach zu sein, viel wichtiger aber ist es, innerlich einfach und klar zu sein. Klarheit wird nicht durch einen entschlossenen, zielbewussten Verstand geschaffen, der Verstand ist überhaupt nicht in der Lage, sie hervorzubringen. Der Verstand kann sich anpassen, kann seine Gedanken ordnen und aneinanderfügen, aber das ist weder Klarheit noch Einfachheit.

Der Wille verwirrt, denn er ist das Werkzeug des Verlangens, mag er noch so hochgemut sein. Der Wille, etwas zu sein, etwas zu werden, kann in eine bestimmte Richtung weisen, er kann inmitten von Wirrsal einen Weg zeigen, aber sein Ziel mag noch so edel und nützlich sein, er führt darum doch in die Absonderung, und Absonderung bringt niemals Klarheit. Der Wille mag für eine gewisse Zeit den Vordergrund des Bewusstseins erhellen, was für das praktische Handeln notwendig ist, aber er leuchtet nie in seine Hintergründe, da er doch selbst aus ihnen herkommt. Der Hintergrund, das Wertbewusstsein, erzeugt den Willen und gibt ihm immer neue Nahrung, und der Wille schafft diesem Hintergrund wiederum Geltung und Wirkung, aber er vermag ihn niemals von den Schlacken der Erinnerung, des Vergangenen zu säubern.

Einfachheit kommt nicht aus dem Verstand. Geplante Einfachheit ist nur schlaue Berechnung und gewollte Abwehr aller schmerzlichen und lustvollen Gefühle, also ein durchaus ichbezogener Vorgang, der notwendig in Verwirrung und Gegensatz zur Umwelt führt. Alle Gegensätzlichkeit aber verdunkelt die Welt in uns und um uns. Daher können Gegensätzlichkeit und Klarheit – die Helle ist – nicht nebeneinander bestehen, daher bedeutet wahre Einfachheit das Freisein von aller Zwietracht, aber nicht etwa deren Niederringen. Da einmal Erkämpftes immer von neuem erkämpft werden muss, verlängert gerade der Sieg die Zwietracht ins Endlose. Innewerden, wie es um die Zwietracht bestellt ist, heißt zugleich Einsicht in das Wesen des Begehrens gewinnen. Begehren setzt sich gern vom Begehrenden ab und gibt sich in der Rolle des Beobachters, der neutrale Einsicht gewinnt. Aber diese scheinbare Veredelung des Begehrens ist nur eine Verdrängung und kein Innewerden. Es gibt keine Scheidung zwischen dem Beobachter und seinem Objekt, die beiden sind unzertrennlich eins, und nur insoweit wir diese Einheit in uns erleben, sind wir frei von Begehren und Zwietracht. Dabei dürfen wir niemals fragen, wie wir zu diesem Erlebnis gelangen können. Die Antwort könnte nur lauten: es muss uns zuteil werden, und das kann es natürlich nur, wenn wir es wach und aufgeschlossen erwarten. Auch die Begegnung mit einer Giftschlange können wir in unserem bequemen Zimmer nicht wirklich erleben, selbst wenn wir noch so eifrig darüber meditieren und sie uns noch so lebhaft vorzustellen suchen. Zu einem solchen Erlebnis gehört, dass man sich über den Bereich gepflasterter Straßen und künstlicher Nachtbeleuchtung hinauswagt.

Das Denken kann über das Ende des Streits und der Zwietracht Betrachtungen anstellen, aber es kann sie nicht wirklich erleben, denn Einfachheit oder Klarheit ist nicht Sache des Verstandes.