»Mein Weg und Dein Weg« – Teil 2

Die Trennung zwischen Gott oder der Fülle des Seienden und dir selbst wird durch dein eigenes Denken bewirkt, das sich an das Gewusste, die Sicherheit, die Geborgenheit klammert. Diese Trennung kann nicht überbrückt werden, es gibt kein Ritual, keine Askese, kein Opfer, das dich über den trennenden Abgrund tragen könnte, es gibt keinen Heiland, keinen Meister, keinen Guru, der diese Trennung aufheben und dich zu dem führen könnte, was ist. Diese Trennung besteht nämlich nicht zwischen der Wirklichkeit und dir, sondern ganz und gar in dir selbst, sie ist nichts anderes als der Widerstreit entgegengesetzter Wünsche oder Begierden. Jedes Verlangen erzeugt sein eigenes Gegenteil, und Umwandlung besteht nicht etwa in der Festlegung auf ein ganz bestimmtes Verlangen, sondern in der Befreiung aus dem Zwiespalt, den alles Begehren zur Folge hat. Begehren, welchen Ranges auch immer, führt stets zum Widerstreit, dem wir uns auf jede denkbare Art zu entziehen suchen, obwohl wir ihn dadurch nur verschärfen. Aus diesem Widerstreit kann uns niemand befreien, so groß und mächtig er auch sei, auch Magie und Riten vermögen dagegen nichts, sie wiegen uns höchstens in angenehmen Schlaf, und beim Erwachen ist das Problem ungelöst und unverändert wieder da. Aber die meisten von uns wollen ja gar nicht erwachen, darum leben sie weiter in der Illusion. Erst wenn der Konflikt gelöst wird, kommt die Ruhe über uns, in der sich die Fülle des Seins entfalten kann. Auf Meister, Heilande und Gurus kommt es dabei nicht an, wichtig ist allein, dass wir des ständigen Widerstreits innewerden, in den uns unser Belehren stürzt, und dieses Innewerden verlangt Selbsterkenntnis und ständiges Aufgeschlossensein für das Verhalten des Ichs.

Wachsame Aufgeschlossenheit für uns selbst ist alles andere als einfach, deshalb ziehen wir in der Mehrzahl den glatten Weg der Illusion vor und umgeben uns mit Autoritäten, die unser Leben formen und in ihre Schablone pressen. Die Autorität kann kollektiv sein, dann ist sie der Staat, oder persönlich in Gestalt des Meisters, des Heilands oder des Guru. Autorität in jeder Form macht uns blind und gedankenlos, und da die meisten Menschen der Meinung sind, dass Denken nur Leiden bringe, überlassen sie das Denken willig der Autorität.

Autorität bedeutet Macht, alle Macht bedarf aber eines Zentrums, von dem sie ausgeht, und ist daher in höchstem Maße verwerflich. Sie verdirbt nicht nur den, der sie ausübt, sondern auch alle, die sich ihr unterwerfen. Auch Macht im Gewande des Wissens und der Erfahrung, wie sie sich im Meister, seinem Stellvertreter oder dem Priester verkörpert, ist immer von Übel. Worauf es ankommt, ist nicht die Schablone oder der Führer, sondern einzig und allein dein eigenes scheinbar in endlosen Widerstreit verstricktes Leben. Die Autorität des Meisters und des Priesters hat nur die Wirkung, uns von der großen Hauptsache, dem Widerstreit in uns selbst, abzulenken. Wir können unsere Leiden weder begreifen noch heilen, indem wir unser Leben in andere Bahnen lenken. Damit weichen wir dem Leiden nur aus und flüchten uns vor ihm in den Zwang einer neuen Schablone. Der Erfolg ist nur, dass das verleugnete Übel weiterschwärt und um so größere Misslichkeiten und Schmerzen verursacht. Seiner selbst innezuwerden, mag schmerzlich sein und nur flüchtige Freuden bescheren, aber es steht am Beginn aller Weisheit.

Es gibt keinen Weg, der zur Weisheit führt. Wird dir ein solcher Weg gezeigt, dann besteht die angebliche Weisheit aus Formeln, aus fertigen Vorstellungen, kurzum aus Gewusstem. Kann aber Weisheit überhaupt gewusst oder gepflegt werden? Ist sie etwas, das man erlernen, das man aufspeichern kann? Wenn sie das ist, dann wird sie zur bloßen Wissenschaft, zum Inhalt von Erfahrungen und Büchern. Erfahrung und Wissenschaft sind aber nur eine ununterbrochene Kette von Reaktionen des Gehirns und daher unfähig, das Neue, Frische, Ungeschaffene überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn seiner innezuwerden. Alles Wissen und alle Erfahrung beruhen auf Dauer, daher führt auch ihr Weg zur Entfaltung ihrer eigenen Vorstellungen, und darum binden sie auch unser Denken an ihre Kausalität. Weisheit dagegen ist das Innewerden dessen, was ist, von Augenblick zu Augenblick ohne Anhäufung von Wissen und Erfahrung. Gehäuftes Wissen und gesammelte Erfahrung lassen uns keine Freiheit, des Seienden innezuwerden; ohne Freiheit gibt es kein Entdecken, nie endendes Entdecken aber ist die einzige Quelle der Weisheit. Weisheit ist immer neu, immer frisch und lässt sich auf keine Art ›sammeln‹. Jede solche Absicht beraubt das Entdeckte seiner Neuheit. Frische und Unbefangenheit.

Das Wort von den ›vielen Wegen zu der einen Wahrheit‹ zeugt von ausgesprochener Unduldsamkeit, obwohl es einem auf Duldung bedachten Denken entstammt. »Ich gehe meinen Weg, du gehst den deinen, aber das soll unserer Freundschaft keinen Abbruch tun, eines Tages finden wir ja doch zusammen.« Wie sollen wir je zusammenfinden, wenn dein Weg nach Norden führt und der meine nach Süden? Können wir Freunde sein, wenn du diese Überzeugung hast und ich jene, wenn ich etwa ein kollektiver Mörder bin, während du ein friedliebender Mensch bist? Freundschaft setzt gegenseitige Beziehung im Denken und Tun voraus, wie aber wäre eine Beziehung zwischen einem Hassenden und einem Liebenden vorstellbar? Oder gibt es etwa eine Beziehung zwischen dem, der in der Illusion lebt, und dem, der von diesem Trug frei ist? Der Freie mag versuchen, eine Art Beziehung zu dem Geknechteten herzustellen, aber für den Sklaven der Illusion gibt es keine wie immer geartete Beziehung zu einem freien Menschen.

Die in der Absonderung lebenden und in ihrem Für-sich-sein verhafteten Menschen suchen wohl eine Beziehung zu anderen herzustellen, die ebenso ichbezogen sind wie sie selbst, aber solche Bestrebungen führen zwangsläufig zu schmerzlichen Konflikten. Um diese schmerzliche Wendung zu vermeiden, befleißigen sich kluge Leute der Duldsamkeit. Jeder von ihnen schaut über die Verschanzung von Ichbezogenheit, die er um sich her errichtet hat, und bemüht sich dabei, recht freundlich und großzügig zu sein. Duldsamkeit kommt aus dem Verstand, nicht aus dem Herzen. Spricht man etwa von Duldsamkeit, wenn man liebt? Erst wenn das Herz leer ist, füllt es der Verstand mit seinen schlauen Schlagworten und seinen Ängsten. Wo Duldsamkeit herrscht, kann keine echte Gemeinschaft entstehen.

Zur Wahrheit führt kein Weg. Die Wahrheit muss entdeckt werden, aber es gibt keine Formel für ihre Entdeckung. Was formuliert ist, das ist nicht wahr. Du musst das Wagnis auf dich nehmen, ins Unbekannte vorzudringen, und dieses Unbekannte bist du selbst. Also musst du dich auf die Reise machen, um dich selbst zu entdecken, aber nicht nach einem vorgefassten Plan oder einer Schablone, denn dann entdeckst du nichts. Entdeckungen bringen Freude – nicht jene erinnerte, matte, die uns vertraut ist — sondern eine Freude, die immer neu geboren wird. Selbsterkenntnis ist der Beginn der Weisheit, in deren gelassener Stille das Unermessliche fühlbar wird.