Leiden – Teil 2

War unser geliebtes Du je wirklich oder war es nur ein Traumbild unserer eigenen Phantasie, angetan mit dem Prachtgewand unseres ach so flüchtigen Entzückens? Das Flüchtige ist der Tod, was wir sind, ist das Leben. Der Tod kann das Leben nicht für immer überschatten, so sehr wir auch danach verlangen, denn das Leben ist stärker als der Tod. Das, was ist, ist immer stärker als das, was nicht ist. Wie viele lieben den Tod mehr als das Leben! Die Absage an das Leben ist ja so schön, weil sie uns vergessen lässt. Wenn der andere lebt, leben wir nicht mehr, wenn der andere lebt, sind wir frei und unbehindert, der andere ist die Blume, der Nachbar, der Geruch, die Erinnerung. Wir alle brauchen jenen anderen, wir gehen ganz in ihm auf, nur der andere ist noch wichtig, nicht mehr wir selbst. Der andere ist das Traumbild von uns selbst, wenn wir aber erwachen, dann sind wir wieder, was ist. Das, was ist, kennt keinen Tod, wir aber möchten dem, was ist, ein Ende machen. Das Verlangen, ein Ende zu machen, erzeugt das Fortwirkende, was aber fortwirkt, kann nie um das Seiende wissen, das keinen Tod kennt.

»Eines ist jedenfalls sicher: so wie bisher, als ein Halbtoter, kann ich nicht weiterleben. Im übrigen glaube ich nicht, dass ich alles verstanden habe, was Sie sagten, ich bin viel zu benommen, als dass ich Ihnen richtig folgen könnte.«

Haben Sie nicht auch schon die Erfahrung gemacht, dass wir trotz mangelnder Aufmerksamkeit beim Zuhören oder Lesen wahrscheinlich unterbewusst dennoch bei der Sache sind und ohne unser Zutun manches behalten, was wir nicht bewusst in uns aufgenommen haben? Obwohl Sie etwa die Bäume dort keineswegs bewusst betrachtet haben, taucht ihr Bild plötzlich bis ins einzelne getreu vor Ihnen auf – haben Sie ähnliches nicht schon erlebt? Natürlich sind Sie jetzt von Ihrem Unglück noch ganz benommen, aber wenn Sie sich eines Tages davon erholt haben, werden Sie sich dennoch dessen erinnern, was wir jetzt miteinander sprechen, und dann mag es Ihnen vielleicht doch von Nutzen sein. Über eines müssen Sie sich aber klar sein: wenn Sie den Schock erst überstanden haben, dann wird Ihnen das Herz noch schwerer sein als jetzt, und darum werden Sie alsbald nach einer Hintertür Ausschau halten, die Ihnen erlaubt, Ihrem Elend zu entschlüpfen. Nur zu viele Menschen werden Ihnen dabei ihre Hilfe anbieten, sie kommen Ihnen mit allen möglichen einleuchtenden Erklärungen, sie haben Folgerungen bereit, zu denen sie selbst oder andere gelangt sind, kurzum, sie werden mit allen Mitteln versuchen, Ihnen ›Vernunft beizubringen‹. Oder aber Sie finden selbst Ihre Hintertür, das Mittel, Ihren Schmerz zu betäuben, das im übrigen durchaus nicht angenehm zu sein braucht. Bis jetzt ist Ihnen das Geschehene noch zu nahe, aber im Lauf der Zeit stellt sich unweigerlich das Verlangen nach jenem tröstlichen Ausgleich ein, den Ihnen eine Flucht in die Religion, den Zynismus, die Arbeit für das öffentliche Wohl oder irgendeine Ideologie zu bieten verspricht. Aber Flucht jeder Art, ob zu Gott oder zum Alkohol, verhindert nur, dass wir unseres Leides innewerden.

Wir müssen nämlich zur Einsicht in unser Leid gelangen, wir dürfen es auf keinen Fall ignorieren oder verdrängen. Wenn wir es unbeachtet lassen oder verdrängen, dann wirkt es im geheimen unvermindert weiter. Ignorieren ist ja nur eine Flucht vor dem Leid. Wenn wir Einsicht in das Leid gewinnen wollen, müssen wir uns sozusagen einer operativen, experimentellen Methode bedienen.

Wer experimentiert, der darf das Ergebnis seines Versuchs nicht vorwegnehmen. Wenn Sie etwas Vorherbestimmtes zu erreichen suchen, ist kein Experiment möglich. Wenn Sie schon wissen, was Sie wollen, dann ist das Streben danach kein Experimentieren. Wollen Sie Ihr Leid überwinden, was ja bedeutet, dass Sie es hassen und verdammen, dann können Sie nie zur Einsicht in seine Ganzheit, in sein wahres Wesen gelangen, denn solange Sie es zu überwinden suchen, ist es Ihnen nur darum zu tun, ihm zu entgehen. Wenn wir des Leides innewerden wollen, darf der Verstand nicht wirkend eingreifen, um es zu rechtfertigen oder zu überwinden, das Denken muss dabei vielmehr untätig, wohl aber in schweigender Wachsamkeit verharren, so dass es ohne Zögern begreift, was ihm das Leid offenbart. Das Denken kann nämlich der Geschichte nicht folgen, die ihm das Leid erzählt, solange es an Hoffnungen, Schlussfolgerungen oder Erinnerungen gefesselt ist. Das Denken muss frei sein, wenn es dem, was ist, in seinen geschwinden Bewegungen folgen will, diese Freiheit ist also nicht das Ende, das Ziel, sie muss vielmehr von allem Anfang an gegeben sein.

»Worin liegt nun die Bedeutung all dieses Leids?« Ist Leid nicht Anzeichen eines Konflikts, des Konflikts zwischen Schmerz und Freude? Deutet es nicht auf Unwissenheit hin? Unwissenheit ist nicht Mangel an Tatsachenkenntnis, Unwissenheit ist mangelnde Einsicht in das Wesen und Wirken des Ichs. Ehe wir unserer Selbstheit nicht vollkommen innewerden, nimmt das Leid kein Ende. Wahre Einsicht in das Wesen und Wirken des Ichs erwächst uns nur aus der Beziehung zum Du.

»Für mich hat jede Beziehung zum Du aufgehört.« Es gibt kein Ende unserer Beziehungen. Eine einzelne Beziehung mag aufhören, dennoch bleibt uns eine Fülle anderer erhalten. Leben heißt ja in Beziehung stehen, ein Leben in völliger Absonderung ist undenkbar. Wenn wir versuchen, uns durch eine Beziehung zu einem einzelnen Du von unserer Umwelt abzusondern, dann führt die so gesuchte Absonderung unweigerlich zu Kummer und Leid. Leid ist Absonderung des Ichs.

»Kann mein Leben jemals wieder werden, was es war?«

Können wir die Freude von gestern heute noch einmal genießen? Das Begehren nach Wiederholung erhebt sich nur, wenn unser Heute freudlos ist. Ist das Heute leer, dann wendet sich unser Blick zurück in die Vergangenheit oder voraus in die Zukunft. Alles Begehren nach Wiederholung des Gewesenen ist ein Begehren nach Dauer, und Dauer, das Fortwirken des Alten, schließt alles Neuwerden aus. Das Glück liegt nicht in der Vergangenheit oder in der Zukunft, sondern allein im Wirken der Gegenwart.