Sein und Werden – Teil 2

»Das ist ausgeschlossen! In unserer Gesellschaftsordnung geht so etwas nicht, auch der Wunsch nach sozialem Aufstieg lässt es nicht zu, und schließlich hat doch jeder Mensch seine Ideale. Wir können nicht umhin, voranzustreben, es liegt eben in unserer Natur.«

Die bloße Behauptung, es ginge nicht anders, macht jeder Diskussion ein Ende. Aber verzeih, ist es nicht etwas denkfaul, einfach solche Behauptungen aufzustellen und lieber die ganze Not in Kauf zu nehmen, die menschliche Torheit verschuldet, als ihnen kritisch zu Leibe zu gehen?

Du sprichst von unserer Gesellschaftsordnung. Warum ist sie denn so, wie sie ist? Wer hat sie uns gegeben? Sind diese Normen, denen wir uns so freudig unterwerfen, etwa nicht unseren eigenen Köpfen entsprungen? Und dann deine Ideale. Sind sie vielleicht daran schuld, dass wir fortwährend etwas anderes werden wollen, als wir sind? Schwebt uns ein Fernziel, irgendein Utopia vor, das uns immer wieder in den Kampf treibt? Würden wir wirklich entarten, wenn wir nicht ständig einem solchen Ziel zustrebten?

»Selbstverständlich. Die Welt käme zum Stillstand, und Stillstand ist Rückgang, ist Rückfall in das Übel. Wir stürzen nur zu leicht in den Abgrund der Hölle, aber es ist dem Menschen unendlich schwer gemacht, den Himmel zu erklettern.«

Siehst du, das sind wieder nur Vorstellungen, subjektive Meinungen. Woher weißt du denn so sicher, dass sie richtig sind? Nur die Erfahrung könnte dir sagen, dass es wirklich so kommen wird. Unsere Vorstellungen stehen echter Einsicht ebenso im Wege wie logische Schlüsse und Erklärungen. Treiben uns diese Vorstellungen, diese Ideale nicht vielmehr geradezu dazu, immer etwas werden, etwas erreichen zu wollen? Wenn ich ›dieser‹ bin, zwingt mich dann nicht ein vorgestelltes Ideal, jener andere werden zu wollen? Sind also etwa unsere Ideale die eigentliche Ursache unseres nie endenden Kampfes? Fragen wir uns darum einmal, wie so ein vorgestelltes Ideal beschaffen ist. Bedeutet es etwas wesentlich anderes als das, was ist, als die Wirklichkeit unseres Daseins? Verhielte es sich so, gäbe es keine Verwandtschaft zwischen Ideal und Wirklichkeit, dann wäre es für uns nicht möglich, die Wirklichkeit zu idealisieren, wie wir es doch so gerne tun. Dazu gehört nämlich notwendig, dass sich unser Ideal, unser Ziel irgendwie auf das bezieht, was ist, also auf den gegebenen Zustand. Du sagst, unsere Ideale drängten uns zum Kampf. So lass uns zunächst einmal untersuchen, wie so ein Ideal zustande kommt. Könnte man nicht sagen, es sei ein Vorausdenken, eine Art Wunschvorstellung?

»Ich möchte sein wie du. Wäre das eine solche Wunschvorstellung?«

Natürlich. Du hast eine Vorstellung, die wahrscheinlich lustbetont sein wird, und möchtest dich diesem Vorstellungsbild angleichen, das eine Frucht deiner Wünsche ist. Du willst nicht mehr sein, was du bist, weil dir das nicht mehr gefällt, sondern etwas werden, was dir liebenswert dünkt. Das Ideal ist die vorweggenommene Erfüllung deines Wunsches, anders zu sein, sein Gegenteil die Fortdauer dessen, was ist, des Zustandes, den du so satt hast. So meinst du; aber in Wirklichkeit ist hier von einem Gegenteil keine Rede, denn auch die Erfüllung hebt dich nicht aus dem Seienden, aus dem Alltag heraus, du bleibst darin gefangen, und das Leben läuft

weiter, wenn auch vielleicht in einem etwas veränderten Rahmen. Aber dein Wunschtraum ist ein hartnäckiger Bursche, er lässt nicht locker, du musst um seine Erfüllung kämpfen, damit du wirst, was er dir vorstellt. Man hält diesen Widerstreit zwischen Ideal und Wirklichkeit, den beiden vermeintlichen Gegensätzen, allgemein für unvermeidlich, er gehöre, so sagt man, zum Leben, das nun einmal so sei. Dieser Widerstreit besteht doch darin, dass das, was ist, werden will, was es nicht ist, nämlich das aus der Idee Geborene, das Ideal. Du strebst danach, etwas zu werden, und siehe, dieses Etwas ist dein eigenes Geschöpf. Dein Ideal ist nämlich nichts anderes, als das in dir entstandene Bild eines Menschen, den du liebend gerne ›Ich‹ nennen möchtest.

Merkst du, wie sich das Bewusstsein selbst zum Narren hält? Die Wahrheit ist, dass der ganze Lebenskampf im tiefsten Grund nur um Worte geht, man rennt wie besessen dem eigenen Wunschbild, dem eigenen Schatten nach.

Nimm an, ein heftiger, jähzorniger Mensch träte für Gewaltlosigkeit ein, weil sie sein Ideal ist, so wird ihm sein Vorstellungsbild doch immer den zeigen, der er wirklich ist, allerdings unter einem falschen Namen. So wird es möglich, dass die Menschen dieses Treiben mit gutem Gewissen mitmachen, weil sie darin einen lebensnotwendigen Vorgang, eine geistige Aufgabe, einen Dienst am Fortschritt und was weiß ich sonst noch erblicken. Dabei spielt sich der ganze eigentliche Vorgang im Käfig unseres Bewusstseins ab und fördert nichts anderes zutage als törichte Illusionen.

Wenn du erst dahintergekommen bist, welchen Streich du dir selbst gespielt hast, dann erkennst du das Falsche ohne Mühe als falsch. Die allgemeine Jagd nach Illusionen muss zum Zerfall der Gesellschaft führen. Der allgemeine Kampf und Streit, den sie ausgelöst hat, reißt die Menschen auseinander, fördert also den Zerfall. Werden die Menschen erst gewahr, wie sich ihr Bewusstsein selbst zum besten hält, dann gibt es für sie fortan nur noch das, was ist. Macht sich dieses Bewusstsein dann noch frei von allem Werdedrang und allen Idealen, lässt es davon ab, zu vergleichen und zu verurteilen, verzichtet es also auf seine Herrscherrolle in unserem Leben, dann vollzieht sich für uns im gleichen Augenblick ein tiefgreifender Wandel alles dessen, was ist. Solange das, was ist, das Seiende, die Wirklichkeit noch einen Namen trägt, besteht noch eine Wechselbeziehung zwischen ihr und unserem Bewusstsein. Erst wenn der Name – das Erinnern, das das Wesen des Bewusstseins ausmacht – erlischt, besteht auch das Seiende nicht mehr. Dieser Wandel allein führt das Menschengeschlecht wieder zur Einheit zurück.

Menschlicher Wille kann diese Einheit nicht erzwingen, sie kommt niemals dadurch zustande, dass man die Menschen durch irgendwelche Kniffe des Verstandes zusammenführt. Erst wenn der Zerfall ein Ende hat, wenn der Kampflärm schweigt und die Waffen ruhen, wenn der Mensch in seinem Werdedrang nicht mehr das Sein vergisst, erst dann wird die Welt von selber wieder ganz und heil.