31 Was ist die wahre Aufgabe eines Lehrers?

Die Feigenbäume und Tamarinden beherrschten das enge Tal, und alles sah grün und frisch nach dem Regen aus. In der Sonne war es glühend heiß, aber im Schatten angenehm kühl. Die alten Bäume zeichneten sich ebenmäßig gegen den blauen Himmel ab und warfen tiefe Schatten. Es gab eine erstaunliche Menge Vögel sehr verschiedener Art in dem Tal; sie pflegten zu den Bäumen zu fliegen und sehr schnell darin zu verschwinden. Wahrscheinlich würde es nun mehrere Monate lang nicht mehr regnen, aber jetzt war alles grün und friedlich, die Brunnen waren voller Wasser, und Hoffnung erfüllte das Land. Die Städte mit ihrer Verderbtheit lagen weit hinter den Hügeln, aber die Dörfer hier waren schmutzig und die Bewohner hungrig. Die Regierung machte bloße Versprechungen, und den Leuten im Dorfe schien alles gleichgültig zu sein. Überall um sie herum war Schönheit und Freude, aber sie hatten ebenso wenig Augen dafür wie für den Reichtum in ihrem eigenen Innern. Mitten in all der Lieblichkeit waren die Menschen stumpf und nüchtern.

* * *

Er war Lehrer mit einem kleinen Gehalt und einer großen Familie, aber er interessierte sich für Erziehung. Er sagte, es sei schwer für ihn, mit seinem Gehalt auszukommen, doch könne er es immer noch irgendwie einrichten, und die Armut störe ihn weiter nicht. Sie hätten genug zu essen, obgleich nie allzu reichlich, und da seine Kinder in der Schule, in der er unterrichte, frei erzogen würden, könnten sie alle notdürftig leben. Er sei in seinem Fach gut bewandert und unterrichte auch noch andere Fächer – was jeder Lehrer tun könne, der einigermaßen intelligent sei, fügte er hinzu. Dann betonte er noch einmal sein großes Interesse für Erziehung.

»Was ist die Funktion eines Lehrers?« fragte er.

Ist er nichts als ein Vermittler von Auskunft oder Wissen?

»Das muss er zum mindesten sein. In jedem Gesellschaftsgefüge müssen Jungen und Mädchen darauf vorbereitet werden, sich den Lebensunterhalt ihren Fähigkeiten gemäß zu verdienen. Es gehört zur Aufgabe des Lehrers, seinem Schüler Wissen zu vermitteln, damit er später Arbeit finden und möglicherweise dazu beitragen kann, eine bessere Gesellschaftsordnung zu schaffen. Der Schüler soll fürs Leben ausgerüstet werden.«

Das ist wahr. Aber wollten wir nicht untersuchen, worin die Wirksamkeit eines Lehrers besteht? Hat er nichts anderes zu tun, als den Schüler für eine erfolgreiche Laufbahn vorzubereiten? Hat er keine höhere und umfassendere Bedeutung?

»Natürlich. Erstens kann er ihm ein Beispiel geben. Er kann durch seine Lebensweise und sein Betragen, durch seine Einstellung und seinen Ausblick aufs Leben den Schüler beeinflussen und anregen.«

Ist es wirklich Aufgabe des Lehrers, dem Schüler ein Beispiel zu sein? Gibt es nicht gerade genug Beispiele, genug Helden und Führer, ohne dass man der langen Liste noch andere hinzuzufügen braucht? Liegt das Wesen der Erziehung im Beispielgeben? Sollte man nicht eher dem Schüler helfen, frei und schöpferisch zu werden, und kann bei Nachahmung und Anpassung je äußere oder innere Freiheit entstehen? Bestärkt man nicht gerade in versteckter und fein angelegter Weise die Furcht, wenn man den Schüler dazu anhält, einem Beispiel zu folgen? Und muss das Beispiel des Lehrers nicht die Lebensweise des Schülers so beeinflussen und verdrehen, dass dadurch der ewige Konflikt zwischen dem, was er ist, und dem, was er sein sollte, entfacht wird? Ist es nicht vielmehr die Aufgabe des Lehrers, dem Schüler zu helfen, sich selber zu verstehen?

»Aber der Lehrer soll ihm doch Führer zu einem besseren und edleren Leben sein.«

Zum Leiten gehört Wissen – haben Sie es? Was wissen Sie? Sie wissen nur, was Sie gelernt haben, und zwar durch den Schleier Ihrer Vorurteile, das heißt Ihrer Bedingtheit als Hindu, Christ oder Kommunist; diese Art zu leiten bringt nur mehr Elend und Blutvergießen mit sich, wie man überall in der Welt beobachten kann. Hat ein Lehrer nicht die Aufgabe, seinem Schüler zu helfen, sich auf intelligente Weise von allen bedingenden Einflüssen freizumachen, so dass er dem Leben voll und stark, ohne Furcht oder streitsüchtige Unzufriedenheit begegnen kann? Unzufriedenheit ist Teil der Intelligenz, nicht aber die leichtfertige Besänftigung der Unzufriedenheit. Erwerbsüchtige Unzufriedenheit lässt sich leicht befriedigen, denn sie folgt dem abgenutzten Schema erwerbsüchtigen Handelns. Ist es nicht auch die Aufgabe eines Lehrers, alle angenehmen Illusionen in Bezug auf Führer, Leiter und Beispiele zu zerstreuen?

»Dann kann der Lehrer zum mindesten seinen Schüler für höhere Dinge begeistern.«

Gehen Sie nicht wieder an das Problem falsch heran? Wenn Sie als Lehrer dem Schüler Gedanken und Gefühle eingeben, machen Sie ihn psychologisch von sich abhängig, nicht wahr? Sobald Sie ihn begeistern und er Sie als Führer oder Ideal betrachtet, verlässt er sich auf Sie; solche Abhängigkeit erzeugt immer Furcht, und Furcht lähmt die Intelligenz, nicht wahr?

»Wenn aber der Lehrer weder begeistern darf noch Beispiel oder Führer sein kann, worin besteht dann um Himmelswillen seine wahre Aufgabe?«

Wenn Sie nun all das nicht mehr sind, was sind Sie dann? Und welche Beziehung haben Sie dann zu Ihrem Schüler? Standen Sie vorher überhaupt in einer Beziehung zu ihm? Ihr Verhältnis zu ihm beruhte auf Ihrer Vorstellung davon, was gut für ihn sei, und was er werden solle. Sie waren der Lehrer und er der Schüler, Sie wirkten auf ihn ein, Sie beeinflussten ihn Ihrer besonderen Bedingtheit gemäß und formten ihn bewusst oder unbewusst nach Ihrem eigenen Vorbild. Wenn Sie nun aufhören, auf ihn einzuwirken, dann bekommt er selber Bedeutung; das heißt aber, dass Sie in kennen lernen müssen und nicht mehr verlangen dürfen, dass er Sie und Ihre Ideale – die ohnehin falsch sind – verstehen soll. Dann müssen Sie sich mit dem beschäftigen, was ist, anstatt mit dem, was sein sollte.

Wenn ein Lehrer in der Tat jeden Schüler als einzigartiges Wesen betrachtet und ihn nicht mehr mit anderen vergleicht, kann er sich auch nicht länger um Systeme und Methoden kümmern. Dann bleibt sein einziges Bestreben, dem Schüler zu ›helfen‹, alle bedingenden, inneren und äußeren Einflüsse zu verstehen, so dass er dem komplizierten Leben intelligent und furchtlos begegnen kann, ohne der ohnehin schon bestehenden Verwirrung neue Probleme hinzuzufügen.

»Verlangen Sie damit von dem Lehrer nicht eine Aufgabe, die weit über seine Fähigkeiten hinausgeht?«

Wenn Sie dessen nicht fähig sind, warum sind Sie dann überhaupt Lehrer geworden? Ihre Frage hat nur Sinn, wenn das Lehren für Sie nichts als ein Lebenserwerb oder eine Stellung wie alle anderen ist; ich fühle aber, dass dem wahren Erzieher nichts unmöglich ist.