Zeit und Fortdauer – Teil 1

Das Abendlicht spielte auf dem Wasser, und die Bäume hoben sich dunkel gegen die untergehende Sonne ab. Ein voller Autobus kam vorbei und hinter ihm ein großes Auto mit eleganten Leuten. Ein Kind rollte seinen Reifen die Straße entlang, und eine Frau mit einer schweren Last blieb stehen, um sie zurecht zu rücken, dann ging sie auf ihrem beschwerlichen Wege weiter. Ein Junge auf seinem Fahrrad grüßte einen anderen und beeilte sich, schnell nach Hause zu kommen. Mehrere Frauen gingen vorüber. Ein Mann blieb stehen, steckte sich eine Zigarette an, warf das Streichholz ins Wasser, sah sich um und ging weiter. Niemand schien das Farbenspiel auf dem Wasser und die Silhouette der dunklen Bäume gegen den Himmel zu bemerken. Ein Mädchen kam vorbei mit einem kleinen Kind auf dem Arm, sie sprach zu ihm und deutete dabei auf das dunkle Wasser, wie um das Kind zu belustigen und abzulenken. Jetzt wurden Lichter in den Häusern sichtbar, und der Abendstern begann seine himmlische Bahn zu ziehen.

Es gibt eine Trauer, die wir sehr wenig beachten. Wir kennen Schmerz und Sorge in unseren eigenen Kämpfen und Verwirrungen, wir kennen das elende Gefühl der Wertlosigkeit und Enttäuschung, wir kennen eine  Erfüllung durch Freude und ihre Vergänglichkeit. Wir kennen unseren eigenen Kummer, nehmen aber nicht die Trauer unseres Nächsten wahr. Wie können wir auch, wenn wir so ganz in unsere eigenen Missgeschicke und Prüfungen versponnen sind? Wie können wir die Ermattung eines anderen empfinden, wenn unser eigenes Herz so müde und stumpf ist? Trauer schließt ab, sie isoliert und zerstört. Wie schnell stirbt ein Lächeln! Alles scheint in Trauer, in äußerster Abgeschiedenheit zu enden.

* * *

Sie war sehr belesen, fähig und geradezu. Sie hatte Naturwissenschaft und Religion studiert und die moderne Psychologie aufmerksam verfolgt. Obgleich noch sehr jung, war sie schon verheiratet gewesen – mit den üblichen Nöten einer Ehe, fügte sie hinzu. Jetzt war sie frei, hatte sich vorgenommen, etwas anderes als die gewöhnliche Bedingtheit zu suchen, und war bereit, sich über die Grenzen des Verstandes hinaus vorzutasten. Das Studium hatte ihren Geist für Möglichkeiten jenseits des Bewussten und der Ansammlungen aus der Vergangenheit empfänglich gemacht. Sie erklärte, sie habe mehreren Vorträgen und Diskussionen beigewohnt und gefühlt, dass hier ein allen großen Lehrern gemeinsamer Quell wirksam sei. Sie habe aufmerksam zugehört und vieles verstanden; jetzt sei sie gekommen, um das Unerschöpfliche und das Problem der Zeit zu besprechen.

»Welche Quelle liegt jenseits von Zeit, welcher Seinszustand außerhalb des Urteilsbereichs unseres Geistes? Was ist das Zeitlose, das Schöpferische, von dem Sie gesprochen haben?«

Kann man das Zeitlose wahrnehmen? Hat man einen Prüfstein für seine Erfahrung oder Beobachtung? Wie würden Sie es erkennen und wonach messen?

»Wir können es nur nach seiner Wirkung beurteilen.«

Urteilen gehört aber in die Zeit; soll man die Wirkungen des Zeitlosen nach dem Maß der Zeit beurteilen? Bei einer Untersuchung dessen, was man unter Zeit versteht, wäre es vielleicht denkbar, dass das Zeitlose in Erscheinung tritt. Kann man aber das Zeitlose erörtern? Selbst wenn wir beide uns dessen bewusst wären, könnten wir dann zusammen darüber sprechen? Vielleicht ja, aber unsere Erfahrung würde trotzdem noch nicht die des Zeitlosen sein. Man kann eben nicht anders als mit Hilfe der Zeit darüber sprechen oder sich mitzuteilen versuchen; doch Worte sind keine Begriffe, und ganz offenbar lässt sich das Zeitlose nicht durch Zeit verständlich machen. Zeitlosigkeit ist ein Zustand, der nur eintritt, wenn Zeit nicht mehr besteht. Lassen Sie uns also lieber erörtern, was wir unter Zeit verstehen.

»Es gibt verschiedene Formen von Zeit: Zeit als Wachstum, als Entfernung und als Bewegung.«

Zeit ist sowohl chronologisch wie psychologisch. Zeit als Wachstum bedeutet: das Kleine wird groß, der Ochsenwagen entwickelt sich zum Flugzeug, das Kind wird zum Mann. Himmel und Erde sind vom Wachstum erfüllt. Das ist eine offenkundige Tatsache, und es wäre töricht, sie zu leugnen. Zeit als Entfernung ist schon komplizierter.

»Ja, es ist bekannt, dass ein Mensch zur selben Zeit an zwei verschiedenen Orten sein kann – zum Beispiel ein paar Stunden an einem Ort und gleichzeitig ein paar Minuten an einem andern.«

Unser Denken kann sehr weit in die Ferne schweifen, und tut es auch, während der Denker an demselben Orte bleibt.

»Meine Worte bezogen sich nicht auf dieses Phänomen. Man weiß, dass ein Mensch, ein körperliches Wesen zugleich an zwei weit voneinander entfernten Orten sein kann. Doch unser Problem hier ist die Zeit.«