Das Bewerten einer Erfahrung – Teil 1

Auf dem heißen Felsen unter der glühenden Sonne breiteten die Frauen des Dorfes ihren Hülsenreis aus, der bis dahin im Vorratsraum aufbewahrt worden war. Sie hatten ihn in großen Bündeln zu dem flachen, schräg ablaufenden Felsen getragen, und die beiden Ochsen, die an einen Baum gebunden waren, sollten später die Körner herausstampfen. Das Tal lag weitab von jeder größeren Stadt, und die gewaltigen Tamarindenbäume gaben tiefen Schatten. Eine staubige Straße wand sich durch das Tal, sie führte bis ins Dorf und darüber hinaus. Zahllose Ziegen und Kühe grasten auf den Hügeln. Die Reisfelder standen tief unter Wasser, und weiße Reisvögel flogen mit trägen Schwingen von einem Feld zum andern; obwohl sie durchaus furchtlos erschienen, waren sie doch sehr scheu und ließen niemanden nahe herankommen. Die Mangobäume fingen gerade an zu blühen, und das klar rinnende Flusswasser plätscherte fröhlich. Es war ein liebliches Land, und doch hing die Armut wie eine Plage darüber. Man kann sich freiwillig der Armut ergeben, aber erzwungen ist sie etwas ganz anderes. Die Dorfbewohner waren arm und krank, und obgleich es jetzt eine Armenapotheke gab und Nahrungsmittel verteilt wurden, konnte der Jahrhunderte alte Schaden durch Entbehrung nicht in ein paar Jahren wiedergutgemacht werden. Hunger ist nicht das Problem einer einzelnen Gemeinde oder eines Landes, sondern der ganzen Welt.

Bei Sonnenuntergang kam eine sanfte Brise aus dem Osten, und von den Hügeln strömte Kraft aus. Die Hügel waren hier nicht hoch, doch hoch genug, um die Luft leicht abzukühlen – ganz anders als unten in der Ebene. Die Sterne sahen so aus, als hingen sie dicht über den Hügeln, und gelegentlich konnte man das Grunzen eines Panthers hören. An diesem Abend schien das Licht hinter den dunklen Hügeln allen Dingen um mich her höhere Bedeutung und Schönheit zu verleihen. Ich saß auf der Brücke; die Dorfbewohner, die auf ihrem Heimweg vorbeikamen, brachen plötzlich ihre Gespräche ab und nahmen sie erst wieder auf, als sie in der Dunkelheit verschwanden. Alle Visionen, die unser Sinn heraufbeschwört, sind so leer und matt; doch wenn er aufhört, etwas aus seinem eigenen Gewebe – aus Gedächtnis und Zeit – zusammenzufügen, tritt das Namenlose ein.

Ein Ochsenwagen mit brennender Sturmlampe kam die Straße herauf; langsam berührte jeder Teil der stahlumwundenen Räder die harte Erde. Der Führer war eingeschlafen, aber die Ochsen kannten ihren Heimweg. Sie kamen an mir vorbei, dann tauchten sie wieder in der Dunkelheit unter. Jetzt war alles vollkommen still. Der Abendstern stand noch über dem Hügel, aber bald würde er auch verschwinden. In der Ferne rief eine Eule, und rings um mich herum schwärmte geschäftig die nächtliche Insektenwelt, ohne jedoch die Stille zu unterbrechen. Alles war in dieser Stille enthalten: die Sterne, die einsame Eule und die unzähligen Insekten. Versuchte man, der Stille zuzuhören, so ging sie einem verloren, aber wenn man zu ihr gehörte, hieß sie einen willkommen. Ein Beobachter kann niemals der Stille angehören, er steht immer außerhalb und sieht zu, ohne daran teilzuhaben. Er erlebt nur, ist aber niemals die Erfahrung, die Sache selber.

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Er hatte die ganze Welt bereist, sprach mehrere Sprachen, war Hochschullehrer und Diplomat gewesen. Als junger Mann hatte er in Oxford studiert; da aber sein Leben in rastloser Tätigkeit verlaufen war, hatte er sich vor dem üblichen Alter von allem zurückgezogen. Mit der Musik des Abendlandes war er gut vertraut, liebte aber die seines eigenen Landes mehr. Er hatte verschiedene Religionen studiert und war vom Buddhismus besonders beeindruckt. Aber schließlich, so sagte er, wenn man die Religionen allen Aberglaubens, aller Dogmen und Riten entkleide, verkündeten sie im wesentlichen alle dasselbe. Einige Riten seien sicherlich von besonderer Schönheit, aber heutzutage hätten Mammon und Romantik die meisten Religionen übernommen; er selber sei frei von allen Riten und Dogmen. Dann habe er sich auch mit Gedankenübertragung und Hypnose befasst und sich mit Hellsehen vertraut gemacht, doch all das nie als Zweck an sich betrachtet. Man könne damit zwar seine Beobachtungsgabe erweitern und größere Kontrolle über die Materie erlangen, aber es erschiene ihm ziemlich primitiv und offenkundig. Er habe auch gewisse Drogen einschließlich der allerneusten versucht, die für den Augenblick sein Wahrnehmungs- und Erlebnisvermögen weit über oberflächliches Empfinden hinaus gesteigert hätten, habe indessen solchen Erfahrungen keine große Wichtigkeit beigelegt, denn sie hätten ihm keineswegs die Bedeutung von etwas enthüllt, das, wie er fühle, jenseits des Alltäglichen läge.

»Ich habe alle möglichen Arten des Meditierens versucht«, sagte er, »und habe mich ein Jahr lang von aller Tätigkeit zurückgezogen, um allein zu sein und zu meditieren. Ich habe auch verschiedentlich gelesen, was Sie über Meditation gesagt haben, und war davon sehr betroffen. Seit meiner frühesten Jugend hat das Wort ›Meditation‹ oder der entsprechende Sanskrit Ausdruck eine ganz seltsame Wirkung auf mich ausgeübt. Ich habe immer außerordentliche Schönheit im Meditieren gefunden und mich daran entzückt; es ist etwas, das ich in meinem Leben wirklich genossen habe – wenn man dieses Wort auf etwas so Tiefes anwenden darf. Die Freude daran ist mir stets geblieben, hat sich vielmehr im Lauf der Jahre vertieft und erweitert, und was Sie darüber gesagt haben, hat mir einen neuen Himmel geöffnet. Ich möchte Sie nichts mehr über Meditieren fragen, denn ich habe so gut wie alles gelesen, was Sie darüber gesagt haben, aber ich würde gern, wenn ich darf, über ein Ereignis, das mir kürzlich widerfahren ist, mit Ihnen sprechen.« Er hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort.