Keuschheit – Teil 1

Der Reis war dem Reifen nahe; die untergehende Sonne lag auf den Feldern und verlieh ihrem Grün einen goldenen Schimmer. Lange, schmale Wassergräben liefen durch die Felder, und auf dem Wasser fing sich das immer dunkler werdende Licht. Ringsherum, am Rande der Reisfelder standen Palmen und unter ihnen kleine Häuser, dunkel und einsam. Unser Pfad schlängelte sich träge durch die Reisfelder und Palmenhaine dahin. Er war voller Musik. Ein Junge spielte Flöte angesichts eines Reisfeldes. Er sah sauber und gesund aus, sein Körper war wohlgeformt und zart, er trug nur ein reines, weißes Tuch um die Lenden. Die sinkende Sonne schien ihm gerade ins Gesicht, und seine Augen lächelten. Er übte eine Tonleiter, und wenn er genug davon hatte, spielte er ein Lied. Daran hatte er seine helle Freude, und die Freude wirkte ansteckend.

Ich setzte mich in seine Nähe, aber er spielte ruhig weiter. Das Abendlicht, die goldgrünen, wogenden Felder, die Sonne zwischen den Palmen und der Flöte spielende Knabe schienen dem Abend einen Zauber zu verleihen, wie man ihn nur selten erlebt. Dann hörte er auf zu spielen, kam zu mir heran und setzte sich dicht neben mich. Keiner von uns beiden sprach ein Wort, aber er lächelte, und es schien, als sei der Himmel davon erfüllt. Seine Mutter rief aus einem der Häuser unter den Palmen. Er antwortete nicht sogleich, sondern stand erst nach dem dritten Ruf auf, lächelte wieder und ging fort. Weiter unten auf dem Pfad sang ein Mädchen mit hübscher Stimme zur Begleitung eines Streichinstruments. Jenseits des Feldes fiel ein Mann ein und sang aus voller Kehle mit; das Mädchen hielt inne und hörte dem andern bis zu Ende zu. Es wurde dunkel. Der Abendstern stand über den Feldern, und die Frösche fingen an zu quaken.

Immer wollen wir besitzen – eine Kokosnuss, eine Frau oder den Himmel! Wir wollen alles an uns reißen; es scheint als ob die Dinge durch Besitzen größeren Wert bekämen. Wenn wir von einem Bilde sagen können: ›es gehört mir‹, wird es in unseren Augen schöner und wertvoller, als ob es größere Feinheit, Tiefe und Fülle gewonnen habe. Im Besitzen liegt aber eine seltsam gewalttätige Eigenschaft. Im Augenblick, da man sagt: ›es gehört mir‹, wird der Gegenstand zu etwas, das man pflegen und verteidigen muss, und damit entsteht Widerstand und der Keim zur Gewalttätigkeit. Gewalt ist Selbst-Erfüllung, die unablässig nach Erfolg sucht. Erfolg bedingt stets Misserfolg. Erreichen ist Sterben, aber Wandern ist ewig. Strebt man nach Gewinn und Sieg in dieser Welt, so verliert man sein Leben. Wie eifrig verfolgen wir immer unser Ziel! Doch das Ziel hat kein Ende, ebenso wenig wie unsere Konflikte bei der Verfolgung. Konflikt ist ein unaufhörliches Überwinden, was aber einmal besiegt wird, muss immer wieder besiegt werden. Der Sieger schwebt beständig in Furcht, und Besitz ist sein Untergang. Auch der Besiegte verliert in seinem Streben nach Sieg das, was gewonnen wurde, und wird damit dem Sieger gleich. Seine Schale leer zu lassen, bedeutet Leben ohne Tod.

* * *

Sie waren erst kurze Zeit verheiratet und noch kinderlos, beide schienen so jung, so schüchtern und weltfremd. Sie wollten gern ruhig etwas besprechen, ohne sich zu eilen und ohne das Gefühl, andere warten zu lassen. Es war ein hübsches Paar, aber in ihren Augen lag eine gewisse Spannung. Ihr Lächeln kam bereitwillig, schien aber Besorgnis zu verbergen. Sie sahen frisch und sauber aus, doch eine Andeutung inneren Kampfes umgab sie. Liebe ist etwas Seltsames: wie leicht stirbt sie, wie schnell kann der Rauch ihre Flamme ersticken! Die Flamme ist weder dein noch mein, nur eine Flamme, klar und sich selbst genug – weder persönlich noch unpersönlich, sie gehört nicht zum Gestern und nicht zum Morgen. Ihre Wärme kann heilen, ihr Duft ist nicht beständig. Man kann sie weder besitzen noch für sich allein beanspruchen oder festhalten. Versucht man, sie zu bewahren, so verbrennt und zerstört sie, und der Rauch erfüllt unser Dasein, so dass kein Raum für die Flamme mehr bleibt.

Er sagte, sie seien zwei Jahre verheiratet und lebten jetzt ruhig in der Nähe einer ziemlich großen Stadt. Sie besäßen ein kleines Gut, auf dem sie Reis und Früchte anbauten und Vieh züchteten. Er interessiere sich für die Verbesserung seiner Viehzucht, während sie im Krankenhaus des Ortes arbeite. Ihre Tage seien erfüllt, doch nicht so, als wollten sie sich selber entfliehen. Sie seien niemals vor etwas oder jemandem davongelaufen, außer vor ihren Verwandten, die stark an der Überlieferung festhielten und sehr langweilig seien. Sie hätten sich trotz des Widerstandes der Familie geheiratet und lebten nun für sich allein ohne viel Hilfe. Bevor sie heirateten, hätten sie sich ausgesprochen und wären zu dem Entschluss gekommen, keine Kinder zu haben.«

Warum?

»Wir beide sehen, in welch schrecklicher Verwirrung sich die Welt befindet, und es kommt uns wie ein Verbrechen vor, mehr Kinder in die Welt zu setzen. Die unsern müssten unvermeidlich zu rein bürokratischen Beamten oder zu Sklaven eines religiös-ökonomischen Systems werden. Ihre Umgebung würde sie entweder verdummen oder schlau und zynisch machen. Außerdem hätten wir nicht genug Geld, um ihnen eine angemessene Erziehung geben zu können.«

Was verstehen Sie unter angemessen?

»Um unsere Kinder entsprechend zu erziehen, müssten wir sie nicht nur hier, sondern auch im Ausland zur Schule schicken. Wir müssten ihre Intelligenz und ihr Gefühl für Schönheit und Wert entwickeln und ihnen helfen, ihr Leben reich und glücklich zu gestalten, so dass sie in Frieden mit sich selber wären. Natürlich müssten sie auch eine Technik erlernen, die aber ihre Seele nicht zerstören dürfte. Abgesehen von dem allen hatten wir das Gefühl, wir dürften in unserer Dummheit nicht unsere eigenen Reaktionen und unsere eigene Bedingtheit den Kindern vererben. Wir wollten nicht uns selber in abgeänderter Form fortpflanzen.«

Wollen Sie mir zu verstehen geben, dass Sie beide all das so logisch und brutal durchdacht haben, bevor Sie heirateten? Sie haben einen guten Vertrag aufgesetzt, können Sie ihn nun auch so leicht einhalten? Das Leben ist etwas verwickelter als so ein mündliches Abkommen, nicht wahr?

»Das sehen wir jetzt allmählich ein. Keiner von uns beiden hat zu jemand anderem darüber gesprochen, weder vor noch nach unserer Heirat, und das ist eine unserer Schwierigkeiten. Wir kannten niemanden, zu dem wir frei hätten reden können, denn die meisten älteren Leute sind reichlich anmaßend und machen sich ein Vergnügen daraus, zu tadeln und einem auf die Schulter zu klopfen. Wir hörten einen Ihrer Vorträge und hatten beide den Wunsch, hierher zu kommen und unser Problem mit Ihnen zu besprechen. Dazu kommt, dass wir vor unserer Ehe das Gelübde abgelegt haben, nicht in geschlechtliche Beziehung zu treten.«