Die Flamme der Unzufriedenheit

Es hatte tagelang sehr stark geregnet, die Flüsse brausten und waren hoch geschwollen. Braun und schmutzig strömten sie aus allen Rinnen und vereinigten sich zu einem breiten Wasserlauf, der mitten durch das Tal rann und sich seinerseits in den Strom ergoss, der einige Meilen weiter unten ins Meer einmündete. Der Fluss war hoch und reißend und wand sich durch Obstgärten und flaches Land. Selbst im Sommer trocknete er nie ganz aus, trotzdem alle Bäche, die ihn speisten, dann nur Steine und Sand aufwiesen. Jetzt aber strömte er schneller dahin, als ein Mann gehen konnte, und an beiden Ufern standen Leute und beobachteten das trübe Wasser. Es kam nicht oft vor, dass der Fluss so hoch war. Die Leute waren aufgeregt, ihre Augen glänzten, denn das reißende Wasser war herrlich anzusehen. Die Stadt unten am Meer würde vielleicht darunter leiden, wenn der Fluss über seine Ufer treten, Felder und Wiesen überschwemmen und Häuser beschädigen würde; hier indessen, unter der einsamen Brücke erklang das Rauschen des dunklen Wassers wie Gesang. Ein paar Leute versuchten zu angeln, aber sie konnten wohl kaum viel gefangen haben, denn die Strömung war zu stark und schwemmte viele Trümmer von den benachbarten Bächen mit sich. Es fing wieder an zu regnen, doch niemand rührte sich, alle blieben stehen, um erfreut weiter zu beobachten.

* * *

»Ich bin immer auf der Suche gewesen«, sagte sie, »und habe unendlich viele Bücher über alles mögliche gelesen. Ich war katholisch, bin aber aus der Kirche ausgetreten, um mich einer andern anzuschließen; die zweite habe ich auch verlassen und bin dann einer religiösen Gesellschaft beigetreten. Kürzlich habe ich angefangen, orientalische Philosophie, im besonderen die Lehre Buddhas zu lesen und habe mich außerdem psychoanalysieren lassen. Selbst das hat mich nicht vom Suchen abhalten können, und jetzt bin ich hierher zu Ihnen gekommen. Fast wäre ich nach Indien gegangen,  um mir einen  Meister zu suchen, aber bestimmte Umstände haben mich davon abgehalten.«

Sie fuhr fort zu erzählen, dass sie verheiratet sei und zwei aufgeweckte, intelligente Kinder habe, die auf die Universität gingen. Sie mache sich keine Gedanken um sie, denn sie würden schon für sich selber sorgen. Gesellschaftliche Interessen habe sie nicht mehr. Sie habe ernsthaft versucht zu meditieren, aber nichts damit erreicht, und ihr Denken sei ebenso töricht und leicht abgelenkt wie vorher.

»Was Sie über Meditation und Gebet sagen, ist so ganz anders als alles, was ich gelesen und selber gedacht habe, dass es mich außerordentlich beschäftigt hat«, fügte sie hinzu. »Aber in all meiner quälenden Verwirrung möchte ich wirklich die Wahrheit finden und ihr Geheimnis zu ergründen suchen.«

Glauben Sie, dass Sie die Wahrheit finden können, wenn Sie danach suchen? Vielleicht ist es für den sogenannt Suchenden gar nicht möglich, die Wahrheit zu finden. Wahrscheinlich sind Sie noch nie auf Ihren Drang zu suchen näher eingegangen; und doch suchen Sie immer weiter, gehen von einem zum andern und hoffen, das zu finden, wonach Sie verlangen – was Sie Wahrheit nennen und mit Geheimnis umgeben.

»Ist es denn falsch, dem nachzugehen, was man haben möchte? Ich habe es immer getan und meist erreicht, was ich wollte.«

Das ist möglich; aber glauben Sie, dass man Wahrheit sammeln kann, wie Geld oder Bilder? Halten Sie sie für eine neue Zierde menschlicher Eitelkeit? Muss nicht unser erwerbsüchtiges Denken ganz aufhören, ehe etwas anderes eintreten kann?

»Wahrscheinlich bin ich viel zu begierig, die Wahrheit zu finden.«

Durchaus nicht. In Ihrem Eifer werden Sie finden, was Sie suchen, doch es wird nicht das Wahre sein.

»Was soll ich aber sonst tun – mich beruhigen und stumpfsinnig weiterleben?«

Jetzt ziehen Sie voreilige Schlüsse, nicht wahr? Wäre es nicht wichtig herauszufinden, warum Sie suchen?

»Oh, ich weiß, warum ich suche: weil ich mit allem so durch und durch unzufrieden bin, selbst mit dem, was ich gefunden habe. Immer wieder überfällt mich die Unzufriedenheit so schmerzlich. Mitunter glaube ich, ich hätte etwas verstanden, aber bald genug verblasst es wieder, und der Schmerz der Unzufriedenheit kehrt zurück. Auf alle erdenkliche Weise habe ich versucht, diesen Drang zu überwinden, er ist jedoch zu stark in mir, und ich muss etwas finden – Wahrheit oder was es auch sei – das mir Befriedigung und Frieden gibt.«

Sollten Sie nicht lieber dankbar sein, dass es Ihnen nicht gelungen ist, die Flamme der Unzufriedenheit zu ersticken? Ihr Problem war das Besiegen der Unzufriedenheit, nicht wahr? Sie haben nach Befriedigung gesucht und sie zum Glück nicht gefunden. Finden bedeutet stillstehen und abstumpfen.

»Wahrscheinlich suche ich also nur danach, meiner nagenden Unzufriedenheit zu entfliehen.«

Die meisten Menschen sind unzufrieden, nicht wahr? Aber sie finden Befriedigung bei den angenehmen Dingen des Lebens – sei es nun Bergsteigen oder die Erfüllung eines ehrgeizigen Strebens. Rastlose Unzufriedenheit wird auf diese, sehr oberflächliche Weise in befriedigende Leistung umgesetzt. Wenn wir aus unserer Zufriedenheit aufgerüttelt werden, finden wir schnell Mittel und Wege, die schmerzliche Unzufriedenheit zu überwinden; so leben wir stets an der Oberfläche und dringen nie in die Tiefe ein.

»Wie kann man unter die Oberfläche seiner Unzufriedenheit gelangen?«

Ihre Frage deutet darauf, dass Sie immer noch der Unzufriedenheit zu entfliehen suchen, nicht wahr? Doch mit seinem Schmerz zu leben, ohne ihm entfliehen oder ihn ändern zu wollen, heißt, in die Tiefe seiner Unzufriedenheit einzudringen. Wenn wir danach streben, etwas zu sein oder etwas zu erreichen, leiden wir an qualvollen Konflikten; sobald wir aber solchen Schmerz erzeugt haben, wollen wir ihm gleich wieder entfliehen und flüchten uns in alle möglichen Betätigungen. Kann man jedoch mit seiner Unzufriedenheit verschmelzen, bei ihr verharren und Teil von ihr werden, ohne dass der Beobachter sie in ausgefahrene Gleise der Befriedigung zwingt oder sie als unvermeidlich hinnimmt, dann bahnt man den Weg für etwas, das keinen Gegensatz und kein Doppel hat.

»Ich folge Ihren Worten wohl, aber da ich meine Unzufriedenheit schon so viele Jahre bekämpfe, wird es mir jetzt sehr schwer fallen, mit ihr zu verschmelzen.«

Je stärker man eine Gewohnheit bekämpft, desto mehr belebt man sie. Gewohnheit ist etwas Lebloses, bekämpfen Sie sie nicht, leisten Sie ihr keinen Widerstand. Doch wenn Sie die Wahrheit in Bezug auf Ihre Unzufriedenheit erkennen, wird die Vergangenheit alle Bedeutung für Sie verlieren. Trotz aller Schmerzen ist es etwas Wunderbares, unzufrieden zu bleiben, und diese Flamme nicht mit Wissen, Tradition, Hoffnung oder Errungenschaften zu ersticken. Wir verlieren uns so leicht im Geheimnis menschlicher Leistung, im Mysterium der Kirche oder gar des Düsenflugzeugs. Das ist auch oberflächlich und eitel und führt nur zu Zerstörung und Leid. Es gibt ein Geheimnis, das jenseits der Fähigkeiten und Kräfte unseres Geistes liegt. Man kann es weder suchen noch herausfordern, es muss uneingeladen kommen, und mit ihm wird dem Menschen Segen zuteil.