Bedingtheit – Teil 1

Er war ernstlich darum besorgt, der Menschheit zu helfen und Gutes zu tun, und war Mitglied in verschiedenen Wohlfahrtsorganisationen. Er sagte, er habe buchstäblich noch nie lange Ferien genommen und habe seit seinem Abgang von der Universität unaufhörlich für die Förderung der Menschheit gearbeitet. Natürlich nähme er keine Bezahlung für seine Arbeit. Die Arbeit selber sei ihm immer so wichtig gewesen, und er sei sehr an sie gebunden. Er sei ein Sozialarbeiter ersten Ranges geworden und ginge ganz darin auf. Aber er habe in einem Vortrag etwas über die verschiedenen Wege der Flucht vor sich selber gehört, die unsern Sinn bedingen, und wolle dies gern erörtern.

»Glauben Sie, dass es eine Bedingtheit ist, Sozialarbeiter zu sein? Wird es zu neuen Konflikten führen?«

Lassen Sie uns zuerst einmal herausfinden, was wir unter Bedingt-Sein verstehen. Wann sind wir uns bewusst, bedingt zu sein? Sind wir uns jemals dessen bewusst? Bemerkt man je seine Bedingtheit, oder bemerkt man nur Konflikt und Streit auf verschiedenen Ebenen seines Wesens? Sicherlich sind wir uns unserer Konflikte, Freuden und Schmerzen bewusst, nicht aber unserer Bedingtheit.

»Was verstehen Sie unter Konflikt?«

Alle möglichen Arten von Widerstreit: zwischen Völkern und verschiedenen Gruppen der Gesellschaft, zwischen einzelnen Menschen und in unserm eigenen Innern. Ist Konflikt nicht unvermeidlich, solange sich der Handelnde und seine Handlung, die Herausforderung und Antwort nicht zu einer Einheit zusammenschließen? Konflikt ist unser Problem, nicht wahr? Kein bestimmter, sondern Konflikt im allgemeinen: Streit zwischen Ideen, Glaubenssätzen, Ideologien und den Gegensätzen. Gäbe es keinen Konflikt, so gäbe es auch keine Probleme.

»Wollen Sie uns zu verstehen geben, dass wir alle ein Leben in Absonderung und innerer Beschauung führen sollten?«

Innere Beschauung ist mühsam und sehr schwer zu verstehen. Und obwohl jeder Mensch auf seine Weise bewusst oder unbewusst Absonderung sucht, kann das doch unsere Probleme nicht lösen; im Gegenteil, es vermehrt sie nur. Wir versuchen hier zu verstehen, welche Faktoren unserer Bedingtheit zu neuen Konflikten führen. Wir sind uns nur unserer Konflikte, Freuden und Leiden bewusst, nicht aber unserer Bedingtheit. Was führt zur Bedingtheit?

»Einflüsse der Gesellschaft oder der Umgebung: die Gesellschaft, in die wir geboren werden, die Kultur, in der wir erzogen sind, wirtschaftlicher und politischer Druck und so weiter.«

Das ist richtig; aber ist das alles? Die Einflüsse sind unser eigenes Werk, nicht wahr? Unsere Gesellschaft ist das Ergebnis der Beziehung zwischen Mensch und Mensch – das ist ziemlich klar. Unsere Beziehungen gründen sich auf Nutzen, Bedürfnis, Behagen und Befriedigung; sie erzeugen Einflüsse und Werte, die uns binden. Die Bindung ist unsere Bedingtheit. Wir werden durch unsere eigenen Gedanken und Taten bedingt; doch wir bemerken unsere Bindung nicht, wir sind uns nur unserer Konflikte in Freude und Schmerz bewusst. Wir scheinen nie darüber hinauszugehen; geschieht es doch einmal, so entstehen nur neue Konflikte. Wir sind uns unserer Bedingtheit nicht bewusst, und bis wir es werden, müssen wir notgedrungen immer weiter Konflikt und Verwirrung schaffen.

»Wie kann man sich seiner Bedingtheit bewusst werden?«

Das kann nur geschehen, wenn man einen anderen Vorgang, den des Verhaftet-Seins versteht. Wenn wir begreifen, warum wir verbunden sind, dann können wir vielleicht unserer Bedingtheit bewusst werden.

»Ist das nicht ein großer Umweg zu einer so direkten Frage?«

Wirklich? Versuchen Sie einmal, sich Ihrer Bedingtheit bewusst zu werden! Man kann sie nur indirekt, im Verhältnis zu etwas anderem wahrnehmen. Man kann seine Bedingtheit nicht als abstrakten Begriff erkennen, das wäre rein theoretisch und hätte sehr wenig Bedeutung. Wir sind uns ausschließlich unserer Konflikte bewusst. Ein Konflikt entsteht, wenn sich Herausforderung und Antwort nicht zu einer Einheit zusammenschließen. Konflikt ist das Ergebnis unserer Bedingtheit. Bedingt-Sein heißt Verhaftet-Sein: verhaftet an Arbeit, Tradition, Eigentum, Menschen, Ideen und so weiter. Gäbe es wohl Bedingtheit, wenn wir nicht so verhaftet wären? Sicherlich nicht. Warum aber binden wir uns? Weil mich zum Beispiel die Bindung an mein Vaterland durch Identifizierung mit ihm zu ›jemandem‹ macht. Ich identifiziere mich mit meiner Arbeit, und meine Arbeit wird mir bedeutsam. Ich bin meine Familie, mein Besitz, und ich bin ihnen verhaftet. Der Gegenstand meiner Bindung eröffnet mir einen Weg, um meiner eigenen Leere zu entfliehen. Verhaftet-Sein ist eine Form der Flucht vor sich selber, und jede solche Flucht bestärkt meine Bedingtheit. Meine Bindung an einen anderen Menschen wird zum Mittel, mir selber zu entfliehen; daher wird der andere so bedeutsam für mich, dass ich ihn festhalten und besitzen muss. Er wird zum Faktor meiner Bedingtheit, und die Flucht vor mir selber ist meine Bedingtheit. Wenn wir uns der Wege unserer Flucht vor uns selber bewusst werden, können wir auch die Faktoren und Einflüsse wahrnehmen, die zu unserer Bedingtheit führen.