Psychoanalyse und das menschliche Problem – Teil 1

Die Vögel und die Ziegen waren alle woanders, und so war es ungewöhnlich ruhig und wie abgelegen unter dem weitverzweigten Baume, der ganz allein auf einer sehr großen Ebene wohlbebauter, saftig-grüner Felder stand. In einiger Entfernung konnte man die Hügel, streng und nicht gerade einladend in der Mittagssonne sehen, doch unter dem Baume war es dunkel und angenehm kühl. Der gewaltige, eindrucksvolle Baum hatte in seiner Einsamkeit Kraft und Ebenmaß gewonnen. Er war allein, lebendig und schien seine gesamte Umgebung, sogar die fernen Hügel zu beherrschen. Die Dorfbewohner verehrten ihn. Bei seinem ungeheuren Stamm stand ein gemeißelter Stein, auf den jemand hellgelbe Blumen gelegt hatte. Am Abend pflegte niemand mehr zu dem Baum zu kommen, denn die Einsamkeit um ihn war zu überwältigend; es war besser, ihn am Tage im tiefen Schatten zu verehren, wenn die Vögel zwitscherten und menschliche Stimmen ertönten. Um diese Zeit indessen waren alle Dorfbewohner in ihren Hütten, und es war sehr friedlich unter dem Baume. Die Sonne drang nie bis zu seinem Fuß durch; die Blumen würden also bis zum nächsten Tage frisch bleiben, wenn neue Blumenopfer kämen.

Ein enger Pfad führte bis an den Baum heran und lief dann weiter durch die grünen Felder. Die Ziegen wurden auf diesem Pfade sorgsam bis nahe an die Hügel geleitet; dann ließ man sie laufen, und sie fraßen dort alles in Reichweite. Gegen Abend entfaltete der Baum seine volle Pracht. Wenn die Sonne hinter den Hügeln langsam unterging, leuchteten die Felder noch grüner, und seine Krone fing die letzten goldenen, durchsichtigen Strahlen auf. Beim Eintritt der Dunkelheit schien er sich von seiner Umgebung zurückzuziehen und sich zur Nacht in sich selber abzuschließen; es war, als ob sein Geheimnis wüchse, um in das Geheimnis aller Dinge einzugehen.

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Er betrieb seine Praxis als Psychologe und Analytiker seit einer Reihe von Jahren und hatte viele Leute geheilt. Er arbeitete in einem Krankenhaus wie auch privat, und seine wohlhabenden Patienten hatten ihn ebenfalls reich gemacht, sodass er teure Automobile, ein Landhaus und manches andere besaß. Doch er nahm seine Arbeit ernst, es war nicht nur Gelderwerb für ihn. Er bediente sich verschiedener Methoden der Analyse je nach seinen Patienten, hatte außerdem Heilmagnetismus studiert und wandte bei einigen Patienten versuchsweise auch Hypnose an.

»Es ist sehr merkwürdig«, begann er, »wie frei und leicht manche Leute im hypnotischen Zustand über ihre verborgenen Zwangsvorstellungen und Reaktionen sprechen, und jedes Mal wenn ich einen Patienten unter Hypnose bringe, fühle ich, wie sonderbar es ist. Ich selber bin immer äußerst gewissenhaft und ehrlich gewesen, aber ich bin mir der schweren Gefahr der Hypnose bewusst, besonders in den Händen gewissenloser Leute, Ärzte oder anderer. Vielleicht ist die Hypnose ein kürzerer Weg zur Heilung, vielleicht auch nicht; ich halte sie aber nur in gewissen, hartnäckigen Fällen für gerechtfertigt. Es dauert lange, einen Patienten zu heilen, im allgemeinen mehrere Monate, und ist recht ermüdend.«

»Vor einiger Zeit«, fuhr er fort, »kam eine Patientin zu mir, die ich seit einer Reihe von Monaten in Behandlung hatte. Sie ist alles andere als dumm, ist gut belesen und hat umfassende Interessen. Mit beträchtlicher Erregung und einem Lächeln, das ich lange nicht mehr bei ihr gesehen hatte, erzählte sie mir, dass eine Freundin sie überredet habe, zu einigen Ihrer Vorträge zu gehen. Es stellte sich heraus, dass sie sich während der Vorträge von ihren Depressionen, die sehr ernster Natur waren, befreit fühlte. Sie sagte, der erste Vortrag habe sie sehr bestürzt. Die Gedanken und Ausdrücke seien ihr neu gewesen und sehr widerspruchsvoll erschienen, und sie habe den zweiten Vortrag nicht mehr anhören wollen. Aber ihre Freundin habe erklärt, das geschähe öfter, und sie müsse zu mehreren Vorträgen kommen, ehe sie urteilen könne. Schließlich sei sie zu allen gegangen und, wie ich schon sagte, habe sie das Gefühl der Erlösung von ihrer Spannung bekommen. Ihre Worte schienen bestimmte Punkte in ihrem Bewusstsein zu berühren, und ohne eine Anstrengung ihrerseits, sich von den Hemmungen und Depressionen zu befreien, habe sie auf einmal bemerkt, dass sie verschwunden waren: sie hatten einfach aufgehört zu bestehen. Das geschah vor ein paar Monaten. Vor kurzem sah ich sie wieder und fand, dass ihre Depressionen restlos geklärt waren, sie ist wieder normal und glücklich, besonders in dem Verhältnis zu ihrer Familie, und alles scheint in Ordnung.«

»Das nur zur Einleitung«, fuhr er fort. »Sehen Sie, dieser Patientin habe ich es zu verdanken, dass ich etwas von Ihren Lehren gelesen habe, und nun möchte ich gern folgendes mit Ihnen besprechen: gibt es einen Weg oder eine Methode, wie man schnell an die Wurzel allen menschlichen Leidens gelangen kann? Unsere heutige Technik erfordert viel Zeit und sehr beträchtliche, geduldige Untersuchung.«