Anstrengung – Teil 1

Es hatte sanft genug angefangen zu regnen, doch plötzlich, als ob die Schleusen des Himmels sich geöffnet hätten, kam eine Wasserflut herab. In den Straßen stand das Wasser knietief, weit über den Bürgersteig hinaus. Sogar die Blätter der Bäume regten sich nicht mehr, als wären sie still vor Staunen. Ein Automobil fuhr vorbei und hielt an, denn es war Wasser in seine Maschine geraten. Menschen wateten über die Straße, sie waren bis auf die Haut durchnässt, aber voller Freude über den Regen. In den Gärten wurden ganze Beete weggewaschen, und der Rasen war fußhoch mit braunem Schlamm bedeckt. Ein dunkelblauer Vogel mit rehfarbenen Schwingen versuchte, zwischen dem dichten Laub Zuflucht zu finden, aber er wurde immer nässer und schüttelte sich ununterbrochen. Der Guss dauerte eine Weile, dann hörte er ebenso plötzlich auf, wie er begonnen hatte, und alles war rein gewaschen.

Wie einfach ist es, unschuldig zu sein! Ohne Unschuld kann man nicht glücklich sein. Das Vergnügen an Sensationen ist niemals unschuldiges Glück. Unschuld bedeutet Freisein von der Last der Erfahrungen. Es ist nur unsere Erinnerung an ein Erlebnis, die verderblich wirkt, nicht das Erlebnis selber. Wissen – die Bürde der Vergangenheit – ist Verderbnis. Unsere Fähigkeit anzusammeln und unser Bemühen, etwas zu werden, zerstören die Unschuld; wie kann aber Weisheit ohne Unschuld kommen? Wer nur neugierig ist, kann nie weise werden; er mag etwas finden, aber es wird nicht Wahrheit sein. Die Misstrauischen können auch kein Glück kennen lernen, denn Misstrauen ist die Angst ihres innersten Wesens, und Angst erzeugt Verderbnis. Furchtlosigkeit ist nicht Mut, sondern Freiheit von allem Angesammelten.

* * *

»Ich habe keine Mühe gescheut, etwas in der Welt zu erreichen, und mit großem Erfolg Geld verdient; meine Anstrengungen in dieser Richtung haben zu dem erwünschten Resultat geführt. Ich habe mich auch sehr bemüht, ein glückliches Familienleben zu schaffen, aber Sie wissen wohl, wie das geht; Familienleben ist nicht dasselbe wie Geldverdienen oder das Leiten eines Betriebes. Im Geschäftsleben hat man auch mit Menschen zu tun, doch auf einer anderen Ebene. Zuhause gibt es immer soviel Reibung, meist ohne guten Grund, und alle Anstrengung auf diesem Gebiet scheint die allgemeine Verwirrung nur zu vergrößern. Ich beklage mich nicht, das liegt nicht in meiner Art, aber unser Ehesystem ist sicherlich falsch. Wir heiraten, um unseren Geschlechtsdrang zu befriedigen, und ohne eigentlich etwas von einander zu wissen. Obgleich wir in demselben Hause leben, gelegentlich und bewusst Kinder zeugen, bleiben wir doch einander fremd, und es herrscht immer eine gewisse Spannung, wie sie nur Eheleute kennen. Ich habe alles getan, was ich für meine Pflicht hielt, aber ohne rechten Erfolg, um es gelinde auszudrücken. Wir sind beide herrschsüchtige und streitlustige Naturen, was es auch nicht gerade leichter macht, und all unsere Bemühungen,  uns einander anzupassen, haben zu keiner tief-gehenden Gemeinschaft geführt. Obwohl ich großes Interesse für psychologische Fragen habe, hat es mir bisher nicht viel geholfen, und ich möchte nun gern tiefer in das Problem eindringen.«

Die Sonne war herausgekommen, die Vögel hatten angefangen zu singen, und der Himmel strahlte klar und blau nach dem Unwetter.

Was verstehen Sie unter Bemühung?

»Nach etwas zu streben. Ich habe nach Geld und Rang gestrebt und beides erreicht. Ich habe auch nach einem glücklichen Familienleben gestrebt, bin aber darin nicht sehr erfolgreich gewesen. Jetzt strebe ich nach etwas Höherem.«

Wir kämpfen unermüdlich mit einem Ziel vor Augen, wir streben nach Vollendung und bemühen uns, etwas zu werden – positiv oder negativ. Der Kampf geht immer um Sicherheit in irgendeiner Form. Er bewegt sich auf etwas hin oder von etwas fort. Anstrengung ist tatsächlich ein nie endender Kampf, etwas zu erreichen, nicht wahr?

»Ist es falsch, etwas erreichen zu wollen?«

Darauf wollen wir später eingehen. Was wir Anstrengung nennen, ist ein ununterbrochener Vorgang des Sich-Fortbewegens und Erreichens oder des Erwerbens in allen möglichen Richtungen. Wenn man einer Errungenschaft müde wird, wendet man sich einer anderen zu, und hat man davon genug, so richtet man sein Augenmerk wieder auf etwas anderes. Anstrengung ist nichts als ein beständiges Ansammeln von Wissen, Erfahrung, Geschick, Tugend, Besitz, Macht und so weiter – ein endloses Werden, Sich-Ausdehnen und Wachsen. Ob sich nun unser Bemühen auf ein würdiges oder unwürdiges Ziel richtet, es muss immer zum Konflikt führen, und Konflikt ist Widerstand, Hindernis, ein Sich-Widersetzen. Ist das nötig?

»Nötig wofür?«

Lassen Sie es uns untersuchen. Auf physischem Gebiet mag Anstrengung nötig sein. Will man eine Brücke bauen, Öl bohren oder Kohle fördern, so kann Anstrengung sehr nützlich werden; doch wenn es darum geht, wie die Produkte erzeugt, wie die Arbeit verrichtet und Gewinne verteilt werden, ist es eine ganz andere Frage. Wird der Mensch vom Staate oder von Privatinteressen auf physischem Gebiet für einen bestimmten Zweck oder ein Ideal benutzt, so muss alle seine Anstrengung zu Verwirrung und Elend führen. Die Anstrengung, etwas zu erreichen für den Einzelnen, für den Staat oder eine religiöse Organisation, schafft notwendigerweise Widerstand. Wenn man das nicht voll erfasst, muss alles Streben nach Erwerb, alle Anstrengung auf physischem Gebiet zweifellos eine verheerende Wirkung auf die Gesellschaft haben.

Ist aber Anstrengung auf psychologischem Gebiet – nämlich das Werden, Erreichen oder Erfolghaben – nötig und nützlich?

»Wenn wir uns um nichts mehr bemühten, würden wir dann nicht verkommen und verfallen?«

Wirklich? Was haben wir denn bisher mit aller Anstrengung auf psychologischem Gebiet erreicht?

»Nicht sehr viel, das gebe ich zu. Unsere Anstrengungen haben eine falsche Richtung eingeschlagen. Auf die Richtung kommt es an, und Bemühungen, die in die rechte Bahn gelenkt werden, können von höchster Bedeutung werden. Nur infolge des Mangels an rechter Anstrengung ist heute alles in solchem Durcheinander.«

Sie glauben also, es gäbe richtige und falsche Anstrengung, ist das Ihre Ansicht? Lassen Sie uns nicht um Worte streiten, aber wie unterscheiden Sie zwischen richtiger und falscher Anstrengung? Nach welchem Maßstab urteilen Sie? Was ist Ihr Prüfstein? Die Tradition oder ein Ideal der Zukunft, das, was sein sollte?

»Meinen Maßstab bestimmt das Ergebnis. Erfolg ist wichtig, und ohne die Lockung eines Zieles würde sich niemand anstrengen.«

Wenn Ihr Maßstab Erfolg ist, dann ist Ihnen sicherlich nichts an den Mitteln gelegen – oder doch?

»Ich werde Mittel anwenden, die dem Zweck entsprechen. Ist Glück unser Ziel, dann müssen wir glückliche Mittel finden.«

Sind glückliche Mittel nicht schon das glückliche Ziel? Der Zweck liegt in den Mitteln, nicht wahr? Daher gibt es nur Mittel, die Mittel sind selber Ziel oder Ergebnis.

»Das habe ich noch nie so betrachtet, aber jetzt sehe ich, dass es wahr ist.«