Erziehung und Einheitlichkeit – Teil 1

Es war ein herrlicher Abend. Die Sonne ging hinter riesigen, schwarzen Wolken unter, vor denen sich eine Gruppe hoher, schlanker Palmen abzeichnete. Der Fluss hatte einen goldenen Schimmer, und die fernen Hügel glühten in der untergehenden Sonne. Donner rollte, aber über den Bergen war der Himmel klar und blau. Das Vieh kam von der Weide in die Ställe zurück, von einem kleinen Knaben getrieben. Er konnte nicht älter als zehn oder zwölf Jahre sein, und obwohl er den ganzen Tag über allein gewesen war, sang er laut, während er hin und wieder den Kühen, die abschweiften oder zu langsam liefen, leichte Schläge versetzte. Als er lächelte, erhellte sich sein dunkles Gesicht. Voller Neugier blieb er stehen und fing aus einem unbestimmten Drang an, Fragen zu stellen. Es war ein Dorfjunge ohne jede Erziehung. Niemals würde er lesen und schreiben lernen, aber er wusste schon, was es heißt, mit sich selber allein zu sein. Er war sich dessen nicht bewusst, dass er allein war, wahrscheinlich war es ihm überhaupt nicht eingefallen, noch bedrückte es ihn. Er war eben allein und zufrieden – nicht zufrieden mit etwas, sondern einfach zufrieden.

Mit etwas zufrieden zu sein, heißt, unzufrieden zu sein. Es ist ein Zeichen von Furcht, Zufriedenheit in einer Beziehung zu suchen; denn wenn sie von einer Beziehung abhängt, ist sie nichts als Befriedigung. Zufriedenheit ist ein Zustand des Nicht-Abhängig-Seins. Abhängigkeit führt stets zu Konflikt und Widerstand. Um zufrieden sein zu können, muss man frei sein. Freiheit ist immer am Anfang und muss es sein; denn Freiheit ist kein Ziel und kein Ergebnis. Niemals kann man in der Zukunft frei werden. Künftige Freiheit hat keine Wirklichkeit und ist nichts als eine Idee. Wirklich ist das, was ist, und sich passiv dessen, was ist, bewusst zu werden, bedeutet Zufriedenheit.

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Der Professor sagte, er habe nach seiner Promotion viele Jahre lang unterrichtet und habe in einer der Regierungsanstalten eine große Anzahl Jungen unter sich. Er bereite seine Schüler dazu vor, ihre Examen zu bestehen, denn das entspräche den Wünschen der Regierung und der Eltern. Natürlich gäbe es mitunter Jungen, denen man besondere Gelegenheiten bieten oder Stipendien gewähren könne, aber die große Masse sei gleichgültig, stumpf, faul und meist etwas boshaft. Manche Jungen verstünden, etwas aus sich zu machen, wohin sie auch kämen, aber nur sehr wenige hätten eine schöpferische Flamme.

In all den Jahren seiner Tätigkeit sei er nur sehr selten außergewöhnlichen Jungen begegnet, hin und wieder einem, der vielleicht ein Genie hätte werden können, aber nur zu bald von seiner Umgebung unterdrückt wurde. Er habe in seiner Eigenschaft als Lehrer viele Länder bereist, um die Ausnahmefälle zu studieren, aber es sei überall dasselbe. Jetzt wolle er sich von seinem Beruf zurückziehen, denn er sei nach so vielen Jahren recht traurig über die ganze Lage. Wie gut die Jungen auch erzogen seien, sie erwiesen sich im allgemeinen als dumm. Nur wenige seien gescheit oder wüssten sich zu behaupten und hohe Stellungen zu erlangen, aber hinter ihrer Maske von Ansehen und Herrschsucht seien sie ebenso kleinlich und von Furcht geplagt wie alle andern.

»Unser modernes Erziehungssystem hat versagt, denn es hat zwei verheerende Kriege und entsetzliches Elend verursacht. Zweifellos genügt es nicht, lesen und schreiben zu lernen, sich technische Fähigkeiten anzueignen und sein Gedächtnis auszubilden; das hat nur zu unaussprechlichem Leid geführt. Was betrachten Sie als Endziel der Erziehung?«

Liegt es nicht darin, im menschlichen Wesen einen vollständigen Zusammenschluss, Einheitlichkeit herbeizuführen? Und wenn es das ›Ziel‹ aller Erziehung ist, muss man sich dann nicht darüber klar werden, ob der Einzelne für die Gesellschaft oder die Gesellschaft für den Einzelnen besteht? Wenn die Gesellschaft den Einzelnen für ihre eigenen Zwecke benutzt, ist sie nicht an der Ausbildung einheitlicher Menschen interessiert; sie braucht wirksame Maschinen, anpassungsfähige, ehrbare Bürger, und dazu genügt ein sehr oberflächlicher Zusammenschluss. Solange ein Mensch gehorcht und willens ist, sich gründlich einzuordnen, wird ihn die Gesellschaft nützlich finden und gern Zeit und Geld an ihn wenden. Ist andrerseits die Gesellschaft für den Einzelnen da, so muss sie ihm helfen, sich von den durch sie bedingten Einflüssen frei zu machen. Sie muss ihn zu einem einheitlichen menschlichen Wesen erziehen.