Gibt es tiefgründiges Denken?

Jenseits der Palmen in weiter Ferne lag das Meer, rastlos und grausam. Es war niemals ruhig, immer ungestüm mit seinen Wellen und starken Strömungen. In der Stille der Nacht konnte man sein Rauschen weit landeinwärts hören, in seiner tiefen Stimme lag Warnung und Drohung. Aber hier unter den Palmen herrschte tiefer Schatten und vollkommene Ruhe. Es war Vollmond und beinahe so hell wie am Tage, doch ohne Hitze und blendenden Glanz, und das Licht lag sanft und herrlich auf den wogenden Palmen. Die Schönheit war nicht nur im Mondlicht auf den Palmen, sondern auch in den Schatten, den runden Baumstämmen, im glitzernden Wasser und der reichen Erde. Himmel und Erde, der Vorübergehende, die quakenden Frösche und der ferne Pfiff eines Zuges – all das war wie ein einziges, lebendiges Etwas und mit dem Verstande nicht zu ermessen.

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Unser Denken ist ein erstaunliches Instrument. Es gibt keine von Menschenhand geschaffene Maschine, die so verwickelt, so fein ist und so unbegrenzte Möglichkeiten hat. Wir werden uns, wenn überhaupt, nur der oberflächlichen Schichten unseres Denkens bewusst und begnügen uns damit, an seiner bloßen Außenseite zu leben. Wir lassen das Denken als eine Tätigkeit unseres Verstandes gelten: das Denken des Generals, der Massenmorde plant, des gelehrten Professors und das des Zimmermanns. Gibt es überhaupt tiefgründiges Denken? Ist nicht alles Denken eine Betätigung an der Oberfläche unseres Verstandes? Geht unser Sinn in die Tiefe beim Denken? Kann der Verstand, der zusammengesetzt und ein Ergebnis von Zeit, Gedächtnis und Erfahrung ist, etwas wahrnehmen, das nicht zu ihm gehört? Er ist beständig auf der Suche und tastet nach etwas jenseits seiner eigenen, sich selbst einschließenden Betätigungen, aber das Zentrum, dem sein Suchen entspringt, bleibt sich immer gleich.

Unser Verstand besteht jedoch nicht nur aus Tätigkeit an der Oberfläche, sondern auch aus verborgenen Regungen vieler Jahrhunderte. Diese Regungen ändern oder beherrschen seine Wirksamkeit nach außen, und dadurch entwickelt er den ihm eigenen, zwiespältigen Konflikt. Es gibt keinen ganzen, einheitlichen Verstand, er zerfällt in viele Teile, die alle im Widerspruch miteinander liegen. Wenn er versucht, sich zusammenzuschließen, zusammenzufassen, so gelingt es ihm niemals, seine vielen Bruchstücke in Einklang zu bringen. Wird er durch Denken, Wissen oder Erfahrung zusammengeschlossen, so ist er immer noch das Ergebnis von Zeit und Leiden, und da er zusammengesetzt ist, bleibt er von Umständen abhängig.

Unser Zugang zu dem Problem des Zusammenschluss, der Einheitlichkeit ist falsch. Der Teil kann niemals zum Ganzen werden; und das Ganze lässt sich nie durch einen Teil verwirklichen; aber wir begreifen das nicht. Wir sehen nur, wie das Besondere sich vergrößert, bis es viele Teile umschließt. Doch das Zusammenbringen vieler Teile führt noch nicht zum Zusammenschluss, zur Einheitlichkeit; auch die Harmonie zwischen den verschiedenen Teilen hat nicht viel zu bedeuten. Weder Harmonie noch Einheitlichkeit sind wichtig, denn das kann man durch Pflege, Aufmerksamkeit und rechte Erziehung erreichen; doch ist es von höchster Bedeutung, das Unbekannte ins Dasein treten zu lassen. Das Bekannte kann niemals das Unbekannte empfangen. Unser Denken versucht beständig, im Wirrwarr selbst geschaffener Einheitlichkeit glücklich zu leben, was aber nie zur Schöpferkraft des Unbekannten führen kann.

Selbst-Verbesserung ist im wesentlichen nichts anderes als Mittelmäßigkeit. Selbst-Verbesserung durch Tugend, durch das Identifizieren mit seinen Fähigkeiten oder durch irgendeine Form positiver oder negativer Sicherheit ist ein selbst-einschließender Vorgang, sei er auch noch so ausgedehnt. Ehrgeiz züchtet Mittelmäßigkeit, denn Ehrgeiz ist die Erfüllung des Ich durch Handlung, durch eine Idee oder eine Gruppe. Das Ich ist der Mittelpunkt alles Bekannten, es ist die Vergangenheit, die sich durch die Gegenwart in die Zukunft bewegt; und alle Betätigung im Bereich des Bekannten führt zur Oberflächlichkeit des Denkens. Unser Denken kann nie großartig sein, denn das Großartige ist unermesslich. Das Bekannte unterliegt dem Vergleichen, und alle Tätigkeit des Bekannten kann nur Leid mit sich bringen.