Neid und Einsamkeit – Teil 1

An diesem Abend war es sehr ruhig unter dem Baume. Auf dem noch warmen Felsen stemmte sich eine Eidechse auf und nieder. Die Nacht versprach, kalt zu werden, und die Sonne würde erst in vielen Stunden wieder aufgehen. Langsam und müde kehrten die Ochsen von den entfernten Feldern zurück, auf denen die Bauern mit ihnen gepflügt hatten. Eine Eule schrie in tiefen Kehltönen von dem Hügel, wo sie ihr Nest hatte. Jeden Abend um diese Zeit fing sie gewöhnlich an; mit zunehmender Dunkelheit wurden ihre Rufe immer seltener, aber spät in der Nacht konnte man sie gelegentlich wieder hören. Dann pflegte eine Eule die andere über das Tal hinweg zu rufen, und die tiefen Töne schienen der Nacht größere Schönheit und Stille zu verleihen. Es war ein lieblicher Abend, der Neumond ging gerade hinter den dunklen Hügeln unter.

Mitgefühl entsteht so leicht, wenn das Herz nicht mehr von den Ränken und Listen des Denkens erfüllt ist. Unser Denken ist es, das mit seinen Forderungen und Ängsten, seinen Bindungen und Verleugnungen, seinen Entschlüssen und Trieben die Liebe zerstört. Und wie schwer ist es, dabei einfach zu bleiben! Man braucht weder Lehren noch Philosophien, um sanft und gütig zu sein. Die Tüchtigen und Mächtigen im Lande werden es schon einrichten, dass alle Menschen Obdach, Nahrung und Kleidung sowie ärztliche Hilfe erhalten. Das ist bei der schnellen Zunahme aller Produktion unvermeidlich, es gehört zur Wirksamkeit einer gut organisierten Regierung und einer ausgeglichenen Gesellschaftsordnung. Aber keine Organisation kann Großmut von Herz und Hand verteilen. Großmut entspringt einer ganz anderen Quelle, die über jeden Maßstab hinausgeht, und die von Ehrgeiz und Missgunst so sicher zerstört wird, wie Feuer verbrennt. Diese Quelle muss man berühren, muss aber mit leeren Händen kommen, ohne Gebet und ohne Opfer. Bücher können uns das nicht lehren, kein Lehrer kann uns dahin führen. Man erreicht es nicht mit seinem Streben nach Tugend – obgleich Tugend nötig ist –, noch durch Fähigkeit und Gehorsam. Wenn das Denken gelassen, ohne die geringste Bewegung ist, dann ist es da. Gelassenheit kennt keinen Beweggrund und keinen Trieb nach mehr.

* * *

Sie war jung, aber schon viel von Schmerzen geplagt. Die physischen Leiden machten ihr indessen weniger zu schaffen als eine andere Art Leiden. Körperliche Schmerzen hatte sie mit Medikamenten einschränken können, doch war es ihr nie gelungen, die Qual der Eifersucht zu lindern. Seit ihrer Kindheit, erklärte sie, sei es so mit ihr gewesen; in jungen Jahren war es etwas Kindisches, das man duldete und belächelte, aber jetzt sei es zu einer Krankheit geworden. Sie sei verheiratet und habe zwei Kinder, aber die Eifersucht zerstöre alle ihre Beziehungen.

»Ich bin scheinbar nicht nur auf meinen Mann und meine Kinder eifersüchtig, sondern auf fast jeden, der mehr hat als ich, sei es einen schöneren Garten oder ein hübscheres Kleid. Vielleicht klingt das ziemlich dumm, aber ich leide Folterqualen. Vor einiger Zeit bin ich zu einem Psychoanalytiker gegangen und hatte wenigstens vorübergehend Frieden; aber bald genug fing es wieder an.«

Die Kultur, in der wir leben, ist dem Neid geradezu förderlich, nicht wahr? Reklame, Wettbewerb, Vergleich, Vergötterung von Erfolg mit allen zugehörigen Betätigungen – unterstützen all diese Dinge nicht unsern Neid? Und die Forderung nach mehr ist Neid, nicht wahr?

»Aber …«

Lassen Sie uns zuerst kurz den Neid an sich betrachten, und nicht Ihren besonderen Kampf damit; darauf werden wir später zurückkommen. Ist Ihnen das recht?

»Sicherlich.«

Neid wird allgemein unterstützt und geachtet, nicht wahr? Von Kindheit an werden wir zu wetteifernder Gesinnung angehalten. Wir hören immer wieder auf alle mögliche Weise, dass wir besser sein und Besseres leisten müssen als andere. Beispiele von Erfolgen, von Helden und ihren mutigen Taten werden uns endlos eingehämmert; denn die heutige Kultur ist auf Neid und Erwerbsucht begründet. Ist man nicht erwerbsüchtig im weltlichen Sinne, sondern folgt einem religiösen Lehrer, so erhält man das Versprechen auf den rechten Platz im Jenseits. Wir sind alle mit diesen Ideen erzogen worden, und das Verlangen nach Erfolg ist in fast allen Menschen tief verwurzelt. Man sucht auf die verschiedenste Weise nach  Erfolg: als Künstler, als Geschäftsmann  oder als religiös Strebender. All das sind Formen von Neid; doch erst wenn der Neid beunruhigt oder schmerzt, versucht man, sich von ihm zu befreien. Solange er entschädigt und Freude macht, ist er ein annehmbarer Teil der menschlichen Natur. Wir sehen nicht, dass gerade in solcher Freude Schmerz verborgen liegt. Bindung bringt zwar Freude, aber sie nährt auch Eifersucht und Leid und ist nicht Liebe. Im Bereich derartiger Betätigung lebt, leidet und stirbt man. Erst wenn die Qual solcher selbsteinfriedender Tätigkeit unerträglich wird, kämpft man darum durchzubrechen.