Schöpferisches Glück

An dem Ufer des herrlichen Flusses liegt eine Stadt. Breite, geräumige Stufen führen bis an den Rand des Wassers hinab, und alle Welt scheint auf diesen Stufen zu leben. Vom frühen Morgen bis tief in die Dunkelheit – immer sind sie überfüllt und geräuschvoll. Beinahe auf gleicher Höhe mit dem Wasser springen kleinere Stufen vor; dort sitzen auch Menschen, in Gedanken an ihre Hoffnungen und Sehnsüchte, ihre Götter und Hymnen versunken. Die Tempelglocken läuten, der Muezzin ruft zum Gebet; ein Lied steigt auf, während eine Menschenmenge sich versammelt und in andächtigem Schweigen lauscht.

Jenseits all dieses, weiter oben hinter der Biegung des Flusses stehen eine Anzahl Gebäude. Mit ihren breiten Straßen und baumbestandenen Alleen erstrecken sie sich einige Kilometer weit landeinwärts. Man geht am Wasser entlang und betritt auf einem engen, schmutzigen Wege das ausgedehnte Reich der Gelehrsamkeit. So viele Schüler aus allen Teilen des Landes sind hier – eifrig, lebhaft und geräuschvoll. Die Lehrer nehmen sich selber sehr wichtig und versuchen, mit Ränken bessere Stellungen und Gehälter zu erlangen. Niemand scheint ernstlich um das Schicksal der Schüler nach ihrem Abgang besorgt. Die Lehrer vermitteln Wissen und bestimmte technische Dinge, die die Gescheiten schnell aufnehmen; und wenn die Schüler ihre Examen bestanden haben, dann Schluss. Die Lehrer haben ihre festen Anstellungen, ihre Familie und Sicherheit; wenn aber die Schüler abgehen, stehen sie dem Aufruhr und der Unsicherheit des Lebens gegenüber. Solche Gebäude, solche Lehrer und Schüler findet man überall im Lande. Manche Schüler bringen es zu Ruhm und hohen Stellungen in der Welt; andere zeugen Nachkommen, kämpfen und sterben. Der Staat braucht fähige Techniker und Verwaltungsbeamte, die leiten und herrschen können; und dann gibt es immer noch das Heer, die Kirche und die Geschäftswelt. In der ganzen Welt spielt sich dasselbe ab.

Wir unterwerfen uns dem Vorgang des Lernens, füllen die obere Schicht unseres Verstandes mit Tatsachen und Wissen an, um uns technisch auszubilden und eine Stellung oder einen Beruf zu bekommen, nicht wahr? Offenbar hat in der heutigen Welt ein guter Techniker bessere Aussichten, seinen Lebensunterhalt zu verdienen – aber was dann? Ist ein Techniker besser imstande, dem verwickelten Problem des Lebens die Stirn zu bieten, als jemand, der es nicht ist? Der Beruf ist doch nur eine Seite des Lebens; und es gibt noch andere Seiten, verborgene, feinere, geheimnisvolle. Das Betonen einer einzigen Seite und das Verleugnen oder Vernachlässigen aller übrigen muss unvermeidlich zu sehr einseitiger und zersetzender Tätigkeit führen. Gerade das geschieht aber heute überall in der Welt, und die Folge ist, dass Streit, Verwirrung und Elend beständig zunehmen. Natürlich gibt es auch ein paar Ausnahmen, schöpferische, glückliche Menschen, die nicht von den Ergebnissen ihres Verstandes abhängig sind, die in Beziehung zu dem stehen, was nicht von Menschenhand erschaffen ist.

Du und ich, wir haben unserem Wesen nach die Fähigkeit, glücklich, schöpferisch zu sein; wir können mit dem, was über den Griff der Zeit hinausgeht, Fühlung nehmen. Schöpferisches Glück ist keineswegs eine Gabe, die nur wenigen Menschen vorbehalten ist. Warum kennt die große Mehrzahl der Menschen sie nicht? Warum scheinen einige mit dem Tiefsten in Fühlung zu bleiben, allen Umständen und Unfällen, die andere zerstören, zum Trotz? Warum sind manche Menschen beweglich, biegsam, während andere unbeugsam bleiben und zugrunde gehen? Manche halten trotz ihres Wissens das Tor offen für das, was kein Mensch und kein Buch ihnen bieten kann, während andere sich von Technik und Autorität erdrücken lassen. Warum? Es ist ziemlich klar, dass unser Sinn sich in eine bestimmte Tätigkeit verfangen und verankern will, ohne weitere und tiefere Fragen zu beachten, denn dann ist er auf festem Boden; und so werden seine Erziehung, seine Übungen und Betätigungen auf dieser Ebene gehalten und gefördert, während man gleichzeitig Ausflüchte sucht, um nicht darüber hinausgehen zu müssen.

Viele Kinder stehen, ehe sie von der so genannten Erziehung verdorben werden, in Beziehung zu dem Unbekannten; das zeigt sich auf mancherlei Weise. Doch die Umwelt beginnt bald genug, sich um sie zu schließen, und in einem bestimmten Alter geht ihnen ein Licht, eine Schönheit verloren, die in keinem Buch und keiner Schule zu finden ist. Warum? Sagt nicht, dass sie dem Leben nicht gewachsen seien, dass sie der harten Wirklichkeit entgegentreten müssen, dass es ihr Karma oder die Sünde ihrer Väter sei; das ist alles Unsinn. Schöpferisches Glück ist für alle und nicht nur für einige wenige da. Der eine bringt es auf eine Weise zum Ausdruck und ein anderer vielleicht auf andere; aber es ist für alle da. Schöpferisches Glück hat keinen Marktwert. Es ist keine Ware, die an den Höchstbietenden verkauft wird; es ist vielmehr das einzige, was allen erreichbar ist.

Kann man schöpferisches Glück verwirklichen? Das heißt, kann unser Sinn mit der Quelle allen Glücks in Fühlung bleiben? Kann man sich seine Offenheit erhalten trotz aller Gelehrsamkeit und Technik, trotz Erziehung und dem Drängen des täglichen Lebens? Es ist wohl möglich; doch nur, wenn der Erzieher zur Wirklichkeit erzogen wird, wenn der Lehrer selber mit der Quelle schöpferischen Glücks in Verbindung steht. So ist also nicht der Schüler, das Kind unser Problem, sondern Lehrer und Eltern. Erziehung wird nur dann zu einem Circulus viciosus, wenn man nicht erkennt, dass höchstes Glück eine wesentliche Notwendigkeit ist und Bedeutung vor allem anderen hat. Schließlich ist Offenheit für die Quelle allen Glücks die höchste Form der Religion. Um aber solches Glück verwirklichen zu können, muss man ihm die rechte Aufmerksamkeit schenken, wie man es mit seinen Geschäften tut. Der Lehrerberuf ist kein Gewohnheitsberuf, sondern eine Ausdrucksform von Schönheit und Freude und lässt sich nicht mit Begriffen wie Erfolg und Leistung messen.

Das Licht der Wirklichkeit und ihr Segen wird zerstört, wenn unser Verstand, der Sitz des Ego, die Herrschaft übernimmt. Selbsterkenntnis ist der Beginn von Weisheit; ohne Selbsterkenntnis führt Gelehrsamkeit nur zu Unwissenheit, Kummer und Streit.