Die Familie und das Verlangen nach Sicherheit – Teil 1

Wie hässlich ist Befriedigung! Zufriedenheit ist etwas an sich, aber Befriedigung ist etwas ganz anderes. Befriedigung stumpft den Sinn ab und ermattet das Herz, sie führt zu Aberglauben und Trägheit, und die feinere Empfindsamkeit geht uns verloren. Menschen, die Befriedigung suchen oder sie besitzen, stiften Verwirrung und Leid. Sie werden zu Urhebern übel riechender Dörfer und geräuschvoller Städte. Sie bauen Tempel für geschnitzte Heiligenbilder und vollziehen Riten zur allgemeinen Befriedigung. Sie nähren Klassenhass und Krieg; unentwegt streben sie, die Mittel der Befriedigung zu vervielfältigen: Geld, Politik, Macht und religiöse Organisationen sind ihre Werkzeuge. Sie bedrücken die Welt mit ihrer Achtbarkeit und ihren ewigen Klagen.

Zufriedenheit oder Genügsamkeit ist etwas anderes. Es ist sehr schwer, genügsam zu sein. Man kann nicht an geheimen Stätten nach Zufriedenheit suchen, kann sie nicht erjagen wie Vergnügen, noch erwerben oder um den Preis eines Verzichts erkaufen – sie hat keinen Preis. Man kann sie durch keinerlei Mittel erreichen, kann nicht über sie meditieren, noch sie ansammeln. Die Jagd nach Zufriedenheit ist nichts als das Streben nach größerer Befriedigung. Genügsamkeit bedeutet vollkommenes Verständnis für das, was ist, von einem Augenblick zum andern, es ist die höchste Form negativen Verstehens. Bei Befriedigung entsteht Enttäuschung und Erfolg, aber Genügsamkeit kennt keine Gegensätze mit ihren leeren Konflikten. Genügsamkeit liegt jenseits aller Gegensätze und ist keine Synthese, denn sie steht in keinerlei Beziehung zum Konflikt. Ein Konflikt kann nur weitere Konflikte hervorrufen und erzeugt Illusionen und Leid. Aus Genügsamkeit folgt ein Handeln, das nie widerspruchsvoll ist. Ein zufriedenes Herz befreit das Denken von aller Betätigung voller Wirrsal und Ablenkung. Zufriedenheit ist eine Regung außerhalb der Zeit.

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Sie erklärte, sie habe in Naturwissenschaft mit Auszeichnung promoviert, habe unterrichtet und auch sozial gearbeitet. In der kurzen Zeit seit dem Abschluss ihres Studiums sei sie im Lande herumgereist und habe verschiedenes getan: hier Mathematik unterrichtet, da sozial gearbeitet, ihrer Mutter beigestanden und einer Gesellschaft, der sie angehöre, bei der Organisation geholfen. Sie wolle nichts mit Politik zu tun haben, denn sie halte das für nichts anderes als ein Streben des persönlichen Ehrgeizes und für dumme Zeitverschwendung. All das habe sie durchschaut. Jetzt stehe sie vor der Heirat.

Haben Sie selber entschieden, wen Sie heiraten wollen, oder haben Ihre Eltern ihn ausgesucht?

»Wahrscheinlich meine Eltern. Vielleicht ist es so besser.«

Warum, wenn ich fragen darf?

»In anderen Ländern verlieben sich die jungen Leute in einander und heiraten, und das mag zu Anfang gut sein, aber bald genug gibt es Streit und Unglück, Zank und Versöhnung, Langeweile beim Vergnügen und dann die Routine des täglichen Lebens. In unserem Lande nehmen die Ehen, die nach Übereinkunft geschlossen werden, denselben Verlauf, auch hier geht der Spaß zu Ende, darum bleibt es sich gleich, welches System man wählt. Beides ist entsetzlich, aber was soll man machen? Schließlich muss man ja heiraten, man kann doch nicht sein Leben lang allein bleiben. Es ist recht traurig, aber ein Mann bietet wenigstens eine gewisse Sicherheit, und

Kinder sind eine Freude, man kann das Eine nicht ohne das Andere haben.«

Aber all die Jahre, die Sie studiert haben, und Ihre Examen?

»Ich denke mir, man kann immer noch damit spielen; aber Kinder und Haushalt werden zuerst die meiste Zeit beanspruchen.«

Was nützt Ihnen dann Ihre sogenannte Erziehung? Haben Sie soviel Zeit, Geld und Anstrengung nur verausgabt, um in der Küche zu landen? Haben Sie nicht den Wunsch, auch nach Ihrer Heirat noch zu unterrichten oder sozial zu arbeiten?

»Nur wenn meine Zeit es erlaubt. Es ist nämlich unmöglich, Dienstboten zu halten, wenn man nicht sehr wohlhabend ist. Ich fürchte, das wird nun vorbei sein, wenn ich heirate – und ich möchte gern heiraten. Sind Sie gegen die Ehe?«

Betrachten Sie die Ehe nur als eine Einrichtung zur Gründung einer Familie? Ist die Familie nicht vielmehr eine Einheit im Gegensatz zur Gesellschaft oder ein Zentrum, von dem alle Tätigkeit ausstrahlt, eine sehr ausschließliche Beziehung, die alle anderen Beziehungen beherrscht? Ist sie nicht voller selbst-einschließender Betätigung, die einteilt und trennt, die zum Hohen und Niedrigen, zum Mächtigen und Schwachen führt? Die Familie als System scheint im Widerspruch zum Ganzen zu stehen: jede Familie stellt sich gegen andere Familien oder Gruppen. Bildet die Familie mit all ihrem Besitz im Grunde nicht einen Anlass zum Kriege?

»Wenn Sie so sehr gegen die Familie sind, dann sind Sie sicherlich für das Kollektivleben von Männern und Frauen, wobei die Kinder dem Staate gehören.«

Bitte ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse. Wenn man in Formeln und Systemen denkt, stößt man nur auf Widerstand und Streit. Dann haben Sie Ihr System und ein anderer hat seins; die beiden Systeme fechten es aus, jedes versucht, das andere zu beseitigen, doch das Problem bleibt bestehen.