Der Drang zu suchen

Zwei goldgrüne Vögel mit langen Schwänzen pflegten jeden Morgen in den Garten zu kommen, sie saßen immer auf einem bestimmten Ast, riefen sich zu und spielten miteinander. Sie waren ruhelos, beständig in Bewegung, ihre kleinen Körper bebten, aber sie waren wunderschön und unermüdlich in ihrem Flug und Spiel. Der Garten lag sehr beschützt, viele andere Vögel flogen auch beständig ein und aus. Zwei junge, geschmeidige und flinke Mungos mit gelblichem Fell, das in der Sonne glänzte, pflegten einander oben auf der niedrigen Mauer zu jagen; dann schlüpften sie durch ein Loch und erschienen im Garten. Aber wie vorsichtig beobachteten sie alles, selbst beim Spiel! Sie hielten sich dicht an die Mauer und ihre roten Augen blickten wachsam und munter. Gelegentlich kam auch ein alter, behaglich runder Mungo durch dasselbe Loch langsam in den Garten geschlendert. Es muss Vater oder Mutter der Jungen gewesen sein, denn einmal waren sie alle drei zusammen. Sie kamen einer nach dem andern durch das Loch in den Garten, überquerten die ganze Länge des Rasens im Gänsemarsch und verschwanden wieder im Gebüsch.

* * *

»Warum suchen wir eigentlich?« fragte P. »Was ist der Zweck unseres Strebens? Wie müde man wird von dem ewigen Suchen! Nimmt es je ein Ende?«

»Wir suchen nach dem, was wir finden wollen«, antwortete M., »und wenn wir es gefunden haben, gehen wir auf neue Entdeckungen aus. Würden wir nicht mehr suchen, so würden wir aufhören zu leben, unser Dasein würde stillstehen und bedeutungslos werden.«

»›Suchet, so werdet ihr finden‹«, zitierte R. »Wir finden immer das, was wir finden wollen, wonach wir bewusst oder unbewusst streben. Wir haben aber noch nie unseren Drang zu suchen angezweifelt, immer nur unermüdlich gesucht, und werden allem Anschein nach ewig weiter suchen.«

»Unser Verlangen zu suchen ist unvermeidlich«, erklärte L. »Man könnte ebenso gut fragen, warum wir atmen oder warum unser Haar wächst. Der Drang zu forschen ist so unvermeidlich wie Tag und Nacht.«

Wenn Sie so entschieden behaupten, der Drang zu suchen sei unvermeidlich, wird dem Aufdecken der Wahrheit bereits ein Hindernis vorgeschoben, nicht wahr? Kommt nicht alles Forschen zum Stillstand, sobald man etwas als endgültig oder entschieden hinstellt?

»Es gibt aber bestimmte, feststehende Gesetze wie das der Schwerkraft, und es ist klüger, sie anzuerkennen, als sich vergebens den Kopf daran zu zerschmettern«, erwiderte L.

Aus verschiedenen psychologischen Gründen nehmen wir bestimmte Dogmen und Glaubenssätze an, die im Lauf der Zeit dann ›unvermeidlich‹ oder eine sogenannte Notwendigkeit für den Menschen werden.

»Wenn L. den Drang zu suchen als unvermeidlich hinnimmt, wird er immer weiter auf der Suche bleiben, und es ist für ihn also kein Problem«, sagte M.

Jeder Mensch sucht auf seine Weise – der Wissenschaftler, der schlaue Politiker, ein unglücklicher oder ein kranker Mensch – und von Zeit zu Zeit ändert er den Gegenstand seines Strebens. Wir suchen alle, aber wir haben uns scheinbar nie gefragt, warum. Wir wollen hier nicht den Gegenstand unseres Strebens erörtern – ob er edel oder nicht sei – vielmehr versuchen herauszufinden, weshalb wir überhaupt suchen, nicht wahr? Was bedeutet unser Drang, dieser ewige, zwingende Trieb? Ist er wirklich unvermeidlich? Hört er niemals auf?

»Wenn wir nicht mehr suchen, werden wir dann nicht faul und stagnieren?« fragte Y.

Es scheint als ob Konflikt in der einen oder anderen Form der Lauf des Lebens sei, und wir glauben, unser Leben habe keinen Sinn ohne ihn. Für die meisten Menschen bedeutet das Aufhören aller Kämpfe den Tod. Suchen schließt Kampf und Konflikt ein; ist aber beides so wesentlich, oder gibt es eine andere Lebens-›Art‹, bei der Suchen und Kämpfen fehlen? Warum suchen wir und was?

»Ich suche nach Mitteln und Wegen, das Fortleben meiner Nation – nicht meiner Person – zu sichern«, sagte L.

Besteht wirklich ein so großer Unterschied zwischen dem Fortleben des Einzelnen und dem des Volkes? Jeder Mensch identifiziert sich mit seinem Volke oder seiner besonderen Gesellschaftsordnung und strebt dann nach deren Fortdauer. Damit wird das Fortleben eines Volkes zugleich das des Einzelnen. Sucht nicht jeder Mensch nach Fortdauer, wenn er sich mit etwas Größerem und Edlerem identifiziert?

»Gibt es irgendwann einmal einen Punkt oder einen Augenblick, in dem wir uns plötzlich ohne Suchen und Kämpfen finden?« fragte M.

»Das kann unter Umständen die Folge bloßer Ermüdung sein«, erwiderte R., »eine kurze Atempause, ehe wir uns aufs neue in den bösen Kreislauf von Suchen und Fürchten stürzen.«

»Es könnte auch außerhalb der Zeit sein«, sagte M.

Liegt der Augenblick, von dem wir sprechen, außerhalb der Zeit, oder ist er nur ein Ruhepunkt vor dem Beginn neuen Suchens? Warum suchen wir überhaupt, und ist es denkbar, dass unser Suchen einmal ein Ende nimmt? Wenn wir nicht selber herausfinden, weshalb wir streben und kämpfen, wird der Zustand, in dem alles Suchen aufhört, trügerisch und bedeutungslos für uns bleiben.

»Gibt es Unterschiede zwischen den verschiedenen Gegenständen unseres Suchens?« fragte B.

Natürlich gibt es Unterschiede, aber bei allem Suchen ist der Drang im wesentlichen derselbe, nicht wahr? Ob wir nun einzeln oder als Volk fortleben wollen, ob wir zu einem Lehrer, Guru oder Erlöser gehen, ob wir einer besonderen Lehre folgen oder andere Mittel zur Selbstverbesserung anwenden – sucht nicht jeder Mensch auf seine eigene begrenzte oder umfassende Weise nach Befriedigung, nach Stetigkeit und Fortdauer? Wir fragen uns hier nicht, was wir suchen, sondern warum wir überhaupt suchen; und ob es möglich sei, dass alles Suchen einmal aufhört – nicht aus Zwang oder Enttäuschung, oder weil man gefunden hat, sondern weil der Drang dazu vollkommen verschwunden ist?

»Wir sind in unserer Gewohnheit des Suchens gefangen, und ich glaube, das kommt aus unserer Unzufriedenheit«, sagte B.

Da wir unzufrieden oder unbefriedigt sind, streben wir nach Zufriedenheit und Befriedigung. Solange der Drang nach Erfüllung oder Genugtuung anhält, muss auch unser Suchen und Kämpfen weitergehen. Hinter dem Streben nach Erfüllung lauert immer der Schatten von Furcht, nicht wahr?

»Wie können wir der Furcht entfliehen?« fragte B.

Wir streben nach Erfüllung ohne den Stachel der Furcht. Gibt es aber je Erfüllung, die anhält? Der Wunsch danach wird zweifellos selber zur Ursache von Furcht und Enttäuschung, und nur wenn man die Bedeutung von Erfüllung begreift, kann alles Verlangen enden. Werden und Sein sind zwei vollkommen verschiedene Zustände, man kann unmöglich vom einen zum andern übergehen, doch mit dem Aufhören des Werdens tritt der andere ein.