Verzweiflung und Hoffnung – Teil 1

Die kleine Trommel begann, einen fröhlichen Rhythmus zu schlagen, und bald darauf stimmte eine Rohrflöte mit ein, dann erfüllten beide zusammen die Luft. Die Trommel herrschte vor, aber sie folgte der Flöte. Wenn die Flöte einhielt, schlug die kleine Trommel weiter, scharf und klar, bis sich ihr das Lied der Flöte wieder zugesellte. Die Morgendämmerung war noch weit entfernt, die Vögel waren ruhig, aber der Klang der Musik erfüllte die Stille. In dem kleinen Dorfe fand eine Hochzeit statt. Am Abend vorher war es lustig zugegangen, Singen und Lachen waren bis spät in die Nacht hörbar gewesen, und jetzt wurden die Gäste mit Musik geweckt. Bald darauf zeichneten sich die nackten Äste der Bäume gegen den blassen Himmel ab, die Sterne verschwanden einer nach dem andern, und die Musik hörte auf. Kinder fingen an zu rufen und zu schreien, und lautes Zanken ertönte um den einzigen Brunnen des Ortes. Die Sonne war noch unter dem Horizont, doch der Tag hatte schon begonnen.

Lieben heißt, alles zu erleben; doch Erlebnisse ohne Liebe zu haben, bedeutet, vergeblich gelebt zu haben. Liebe ist verwundbar, aber ein Erleben ohne Verwundbarkeit bestärkt nur das Verlangen. Verlangen ist nicht Liebe und kann die Liebe nicht halten. Verlangen ist schnell verschwendet und in seinem Verschwenden liegt Kummer. Verlangen lässt sich nicht aufhalten; das Beenden des Verlangens durch Willenskraft oder irgendein anderes Mittel, das der Verstand ersinnt, führt nur zu Verfall und Elend. Liebe allein kann unser Verlangen zähmen, und Liebe gehört nicht zum Denken. Das Denken als Beobachter muss aufhören, wenn Liebe herrschen soll. Liebe unterliegt keinem Plan und keiner Entwicklung, sie lässt sich weder durch Opfer noch durch Verehrung erkaufen. Es gibt kein Mittel zum Lieben. Soll Liebe entstehen, so muss alles Suchen nach einem Mittel aufhören. Wer seiner Eingebung folgt, wird die Schönheit der Liebe kennen lernen, doch Freiheit endet, wenn man ihr nachjagt. Nur für den Freien gibt es Liebe, aber Freiheit wird niemals lenken oder festhalten. Liebe ist ihre eigene Ewigkeit.

* * *

Das Sprechen fiel ihr leicht, Worte kamen ihr wie von selber, aber obgleich sie noch jung war, lag schon eine gewisse Trauer über ihrem Wesen. Sie lächelte gespannt, als ob sie sich entfernt an etwas erinnere und begann. Sie sei verheiratet gewesen aber kinderlos, und ihr Mann sei kürzlich gestorben. Sie hätten ihre Ehe weder geplant, noch aus gegenseitigem Verlangen geschlossen. Sie wolle das Wort ›Liebe‹ nicht gern gebrauchen, denn es stehe in jedem Buche und sei auf jedermanns Zunge; aber ihr Verhältnis zueinander sei etwas Außergewöhnliches gewesen. Vom Tage ihrer Heirat an bis zu seinem Tode habe es nie auch nur ein ärgerliches Wort oder eine ungeduldige Geste gegeben, auch hätten sie sich nie getrennt, nicht einmal für einen einzigen Tag. Eine Verschmelzung habe zwischen ihnen stattgefunden, und alles andere – wie Kinder, Geld, Arbeit oder Gesellschaft – sei in den Hintergrund getreten. Das innige Verhältnis zwischen ihnen sei weder romantische Sentimentalität noch bloße Einbildung nach seinem Tode gewesen, sondern von Anfang an Wirklichkeit. Ihr Glück habe sich nicht auf Verlangen gegründet, es sei weit über das Körperliche hinausgegangen. Dann, ganz plötzlich wurde er vor zwei Monaten bei einem Unfall getötet. Der Autobus fuhr zu schnell in der Kurve – und das war das Ende.

»Jetzt bin ich verzweifelt. Ich habe versucht, Selbstmord zu begehen, kann es aber nicht. Um zu vergessen und mich zu betäuben, habe ich alles getan, außer mich in den Fluss zu stürzen, und seit zwei Monaten habe ich kaum mehr geschlafen. Ich tappe vollkommen im Dunkel; die Krise geht über meine Kraft und ist mir unverständlich, ich bin wie verloren.«

Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Kurz darauf fuhr sie fort.

»Meine Verzweiflung ist nicht derart, dass sie geheilt oder ausgelöscht werden kann. Mit seinem Tode ist alle Hoffnung von mir gegangen. Man hat mir gesagt, ich werde vergessen, vielleicht wieder heiraten oder etwas anderes anfangen. Aber selbst wenn ich vergessen könnte, ist doch die Flamme in mir ausgebrannt, sie lässt sich nicht mehr anfachen, und ich suche auch nicht nach Ersatz. Wir leben und sterben mit unserer Hoffnung, und ich habe keine mehr. Ich bin ohne jede Hoffnung, aber darum noch nicht bitter; ich lebe in Verzweiflung und Finsternis und strebe nicht nach Licht. Mein Dasein ist ein lebendiger Tod, ich brauche weder Mitleid, noch Teilnahme oder Liebe. Ich will nichts anderes mehr als ohne Empfindung und Erinnerung in meinem Dunkel verharren.«

Sind Sie also nur hierher gekommen, um sich noch mehr zu betäuben und in Ihrer Verzweiflung bestärken zu lassen? Wollen Sie das im Ernst? Wenn ja, dann wird sich Ihr Wunsch erfüllen. Das Verlangen ist ebenso geschmeidig und schlagfertig wie der Verstand: es kann sich allem anpassen, allen Umständen fügen und Mauern errichten, die alles Licht ausschließen. Es hat geradezu seine Freude an der Verzweiflung und schafft sich ein Abbild zum Anbeten. Wenn Sie sich danach sehnen, im Dunkel zu leben, so werden Sie es erreichen. Sind Sie wirklich gekommen, um in Ihrem eigenen Verlangen bestärkt zu werden?

»Einer meiner Freunde erzählte mir von Ihnen, und ich folgte einem Antrieb und kam hierher. Hätte ich länger darüber nachgedacht, so wäre ich wohl kaum gekommen. Ich habe immer ziemlich triebhaft gehandelt und bin dabei noch nie zu Schaden gekommen. Wenn Sie mich fragen, warum ich herkam, kann ich nur antworten, ich weiß es nicht. Ich glaube, wir brauchen alle irgendeine Hoffnung, man kann nicht ewig im Dunkel leben.«

Was einmal verschmolzen ist, lässt sich nicht auseinanderreißen, und was sich zu einem Ganzen zusammenschließt, kann nicht zerstört werden. Eine Verschmelzung kann auch der Tod nicht trennen. Zusammenschluss geschieht nicht mit einem anderen, sondern mit und in sich selber. Das Verschmelzen der verschiedenen Wesenheiten im eigenen Innern führt zur Erfüllung mit einem andern, aber bloße Erfüllung mit einem andern ist Unvollständigkeit im eigenen Innern, das Verschmelzen mit einem andern ist immer noch Unvollkommenheit. Ein einheitliches Wesen wird nie durch ein anderes zusammengeschlossen; infolge seiner eigenen Vollkommenheit ist es vollkommen in allen seinen Beziehungen. Etwas Unvollkommenes lässt sich nicht durch Beziehungen vervollkommnen. Es ist eine Illusion anzunehmen, dass ein anderer uns vollkommen machen könnte.

»Er hat mich vollkommen gemacht, ich habe die Schönheit und Freude daran erfahren.«

Aber es hat ein Ende genommen! Unvollkommenheit geht immer zu Ende, das Eins-Werden mit einem andern ist immer zerbrechlich und kann aufhören. Erst wenn man mit dem Zusammenschluss bei sich selber beginnt, wird Verschmelzung unzerstörbar. Das Einheitlich-Werden geschieht auf dem Wege negativen Denkens, und das ist die höchste Form von Verständnis. Suchen Sie nach Einheitlichkeit?