Das Wesen des Verlangens – Teil 1

Der Abend war windstill, aber auf dem See lagen schon viele weiße Segel. Eine schneebedeckte Bergspitze in weiter Ferne sah aus, als hinge sie vom Himmel herab. Die Abendbrise aus dem Nordosten wehte noch nicht, doch im Norden sah man schon kleine Wellen auf dem Wasser, und dort liefen mehr Boote aus. Das Wasser war tiefblau und der Himmel vollkommen klar. Der See war sehr breit, aber an sonnigen Tagen konnte man die Orte am anderen Ufer erkennen. In der kleinen Bucht, die abgeschlossen und wie vergessen dalag, war es so friedlich; hierher kamen keine Touristen, und das Dampfboot, das die Runde auf dem See machte, legte nicht an. In der Nähe war ein Fischerdorf, und da das Wetter klar zu bleiben versprach, würden wohl kleine Boote mit Laternen bis spät in die Nacht zum Fischen draußen sein. Unter dem Zauber des Abends waren die Fischer dabei, ihre Netze und Boote bereit zu machen. Die Täler lagen schon in tiefem Schatten, aber die Berge noch im Sonnenschein.

* * *

Wir waren eine Weile zusammen spazieren gegangen und setzten uns nun am Wegrain nieder, denn er war gekommen, um etwas zu besprechen.

»Soweit ich überhaupt zurückdenken kann, habe ich immer in Konflikt gelebt, meist innerlich, doch zuweilen auch nach außen hin. Äußerliche Konflikte quälen mich nicht sehr, weil ich gelernt habe, mich den Umständen anzupassen. Jede Anpassung ist indessen schmerzlich, denn ich lasse mich nicht so leicht überreden oder beherrschen. Mein Leben war schwer, aber ich bin tüchtig genug, um meinen Unterhalt leicht zu verdienen. Das ist alles kein Problem für mich. Was ich nicht verstehe, ist mein innerer Konflikt, den ich unmöglich beherrschen kann. Ich wache oft mitten in der Nacht aus ungestümen Träumen auf, und es kommt mir oft so vor, als ob ich nie einen Augenblick Ruhe vor meinem Konflikt habe. Er geht unter der Oberfläche meiner täglichen Verrichtungen immer weiter, und oft genug bricht er ganz plötzlich in meinen engsten Beziehungen hervor.«

Was verstehen Sie unter Konflikt? Was charakterisiert ihn?

»Nach außen hin bin ich ziemlich beschäftigt, meine Arbeit verlangt Konzentration und Aufmerksamkeit, und wenn ich eingespannt bin, vergesse ich meine inneren Konflikte; doch sobald eine Pause in meiner Tätigkeit eintritt, kommen die Konflikte zurück. Sie entstehen auf allen möglichen Gebieten und sind von verschiedener Art. Bei meiner Arbeit zum Beispiel will ich Erfolg haben, ich möchte in meinem Beruf an der Spitze stehen, viel Geld verdienen und so weiter; und ich weiß, ich bin dazu imstande. Auf einer anderen Ebene jedoch bin ich mir der Sinnlosigkeit meines Ehrgeizes vollkommen bewusst. Einerseits liebe ich die Güter des Lebens, und andrerseits will ich auch wieder ein einfaches, fast asketisches Dasein führen. Ich hasse eine Reihe von Menschen, doch ich möchte ebenso gern vergeben und vergessen.

Ich könnte Ihnen noch viele Beispiele anführen, aber ich weiß, Sie werden das Wesen meiner Konflikte auch so verstehen. Meinem Gefühl nach bin ich friedliebend, und doch werde ich sehr leicht ärgerlich. Ich bin sehr gesund – was unter Umständen, wenigstens in meinem Falle, ein Unglück sein kann. Äußerlich mache ich den Eindruck eines ruhigen und sicheren Menschen, aber meine inneren Konflikte erregen und bestürzen mich. Ich bin weit über dreißig und möchte tatsächlich diese große Verwirrung meiner Wünsche durchbrechen. Sehen Sie, eine weitere Schwierigkeit liegt darin, dass es mir beinahe unmöglich ist, mit jemandem darüber zu sprechen. Es ist das erste Mal in vielen Jahren, dass ich mich ein wenig aufschließe, ich liebe keine Geheimtuerei, aber ich spreche nicht gern über mich selber und könnte nie zu einem Psychologen gehen. Nun, da Sie alles wissen, können Sie mir sagen, ob ich wohl je innere Gelassenheit erreichen werde?«

Lassen Sie uns einmal sehen, ob wir nicht anstatt zu versuchen, Ihre Konflikte zu beseitigen, lieber den wirren Haufen von Wünschen untersuchen können. Das Problem liegt nämlich darin, das Wesen unseres Verlangens zu erkennen, und nicht nur Konflikte zu überwinden, denn das Verlangen ist die Ursache unserer Konflikte. Es erhält seine Anregung durch Gedankenverbindung und Erinnerungen, denn das Gedächtnis ist Teil unseres Verlangens. Jede Erinnerung an Angenehmes oder Unangenehmes nährt unser Verlangen und spaltet es in einander entgegengesetzte und sich streitende Wünsche, und unser Denken identifiziert sich dann mit dem Angenehmen im Gegensatz zum Unangenehmen. Wir treffen die Wahl je nach Schmerz oder Freude und teilen unser Verlangen in verschiedene Klassen des Wertvollen und Erstrebenswerten ein.