Überzeugungen – Träume – Teil 1

Wie herrlich ist die Erde mit ihrem Wüstenland und ihren reichen Feldern, ihren Wäldern, Flüssen und Bergen, ihren unzähligen Vögeln, Tieren und menschlichen Wesen! Es gibt Dörfer auf ihr, die schmutzig und verseucht sind, wo es viele Jahre lang nicht mehr genug geregnet hat; wo die Brunnen fast ausgetrocknet sind und das Vieh nur noch aus Haut und Knochen besteht; wo die Felder aufgerissen sind und die Erdnuss verdorrt; wo kein Zuckerrohr mehr angebaut wird und der Fluss schon seit Jahren nicht mehr fließt. Die Leute dort betteln und stehlen, hungern und sterben in Erwartung des Regens. Dann gibt es auch üppige Städte mit reinen Straßen und glänzenden, neuen Wagen, mit sauberen, wohlgekleideten Menschen, mit zahllosen, reich gefüllten Läden, mit Bibliotheken, Universitäten und den Armenvierteln. Die Erde ist schön, und ihr Boden rings um den Tempel wie in der dürren Wüste ist heilig.

Sich Vorstellungen zu machen, ist etwas ganz anderes als das, was ist, wahrzunehmen; beides indessen bindet.

Während es nicht schwer fällt, das, was ist, zu erkennen, bedeutet es doch noch etwas anderes, davon frei zu sein, weil unsere Wahrnehmung stets durch Urteilen, Vergleichen und Verlangen getrübt wird. Es ist sehr schwierig, etwas ohne die Einmischung des Zensors zu beobachten. Unsere Einbildungskraft schafft sich ein Bildnis des Ich, und unser Denken arbeitet dann in dessen Schatten. Aus dieser Ich-Vorstellung erwächst der Konflikt zwischen dem, was ist, und dem, was sein sollte, das heißt, der Konflikt des Zwiespalts. Das Wahrnehmen einer Tatsache und die Vorstellung von ihr sind vollkommen voneinander verschieden, und nur derjenige, der nicht durch Meinungen oder vergleichende Werte gebunden ist, kann erkennen, was wahr ist.

* * *

Sie war mit dem Zug und Autobus von weither gekommen und hatte das letzte Stück Weges zu Fuß zurückgelegt; und da es ein kühler Tag war, fiel ihr der Anstieg nicht zu schwer.

»Ich habe ein recht dringendes Problem, über das ich gern sprechen möchte«, sagte sie. »Wenn zwei Menschen, die sich lieben, starr an ihren genau entgegengesetzten Überzeugungen festhalten, was soll man da tun? Muss einer von beiden nicht nachgeben? Kann Liebe die trennende und zerstörende Kluft überbrücken?«

Wenn wirklich Liebe herrschte, gäbe es dann wohl so feste Überzeugungen, die nur trennen und binden?

»Vielleicht nicht; aber es ist jetzt über das Stadium der Liebe hinausgegangen. Die Überzeugungen sind hart, grausam und unbeugsam geworden. Wenn einer von beiden nachgiebig ist, der andere aber nicht, muss es zu einem Ausbruch kommen. Kann man etwas tun, um das zu vermeiden? Vielleicht will der eine gern nachgeben und sich zeitweilig anpassen; ist jedoch der andere vollkommen unversöhnlich, so wird das Leben mit ihm unmöglich, und es besteht keine Beziehung mehr. Solche Unnachgiebigkeit kann gefährliche Folgen haben, aber der Betreffende scheint nichts dagegen zu haben, Märtyrer seiner Überzeugungen zu werden. Es kommt einem so völlig sinnwidrig vor, wenn man das trügerische Wesen der Ideen bedenkt, doch Ideen schlagen tiefe Wurzeln, wenn man nichts anderes hat. Güte und Rücksicht verschwinden im harten Glanz von Ideen. Der Betreffende ist so vollkommen davon überzeugt, dass seine Ideen und Theorien, die er sich aus Büchern angelesen hat, die Welt retten und ihr Frieden und Überfluss für alle bringen werden, dass er sogar nötigenfalls Totschlag und Zerstörung als Mittel zu seinem idealen Zweck rechtfertigt. Das Ziel allein sei von Bedeutung, nicht aber die Mittel, und niemand sei wichtig, wenn nur das Ziel erreicht werde.«

Für einen solchen Menschen liegt das Heil in der Zerstörung aller, die seine Überzeugung nicht teilen. Früher haben manche Religionen dies für den Weg zu Gott gehalten, und sie haben immer noch ihren Kirchenbann, ihre Drohungen der ewigen Verdammnis und so weiter. Das, worüber Sie sprechen, ist die neueste Religion. Wir suchen immer nach Hoffnung – in den Kirchen oder bei Ideen, bei fliegenden Scheiben, Meistern und Lehrern; aber all das führt nur weiter zu Elend und Zerstörung. Man muss sich innerlich von seiner unversöhnlichen Einstellung befreien, denn alle Ideen, auch die größten, feinsten und überzeugendsten sind trügerisch: sie trennen und zerstören. Erst wenn das Denken nicht mehr im Gewebe von Ideen, Meinungen und Überzeugungen gefangen ist, kann etwas in Erscheinung treten, das grundverschieden von den Spiegelungen unseres Verstandes ist. Beim Lösen von Problemen ist der Verstand keineswegs die letzte Zuflucht, im Gegenteil, er ist deren Urheber.