Der Einzelne und das Ideal – Teil 1

»Unser Leben hier in Indien ist mehr oder weniger zerrüttet. Wir möchten es gern wieder aufbauen, wissen aber nicht, wo wir anfangen sollen. Ich erkenne sowohl die Bedeutung wie die Gefahren von Massenaktion, habe auch nach dem Ideal der Gewaltlosigkeit gestrebt; aber es hat soviel Blutvergießen und Elend gegeben. Seit der Trennung von Pakistan klebt Blut an unseren Händen, und jetzt verstärken wir noch unsere Waffenmacht. Wir sprechen von Gewaltlosigkeit, während wir zum Kriege rüsten. Ich bin genauso verwirrt wie unsere politischen Führer. Als ich im Gefängnis saß, habe ich viel gelesen, doch hat es mir nicht geholfen, meinen eigenen Standpunkt zu klären.

Können wir eins nach dem andern vornehmen und auf jeden Punkt eingehen? Als erstes: Sie legen sehr großen Nachdruck auf den Einzelnen, ist aber nicht zuweilen vereintes Handeln nötig?«

Der Einzelne ist im wesentlichen die Gesamtheit, und die Gesellschaft ist seine Schöpfung. Einzelmensch und Gesellschaft stehen in einer Wechselbeziehung und sind nicht voneinander zu trennen, nicht wahr? Der Einzelne errichtet das Gesellschaftsgefüge, und wird dann von der Gesellschaft oder Umgebung geformt; aber obgleich er durch seine Umgebung bedingt wird, kann er sich noch immer befreien und seine Tradition durchbrechen. Der Einzelne ist also der Schöpfer gerade der Umgebung, deren Sklave er später wird; doch liegt es auch in seiner Macht, sich davon frei zu machen und eine Umgebung zu schaffen, die seinen Geist oder sein Denken nicht abstumpft. Der Einzelne ist nur insofern von Bedeutung, als er die Fähigkeit besitzt, sich von seiner Bedingtheit zu befreien und das Wirkliche zu erkennen. Eine Persönlichkeit, die innerhalb ihrer eigenen Bedingtheit ausgesprochen grausam ist, wird eine Gesellschaft aufbauen, deren Grundlagen Gewalt und Widerstand sind.

Jeder Mensch lebt ausschließlich in seinen Beziehungen, er hat kein anderes Dasein, und ein Mangel an Verständnis für seine Beziehungen stiftet Verwirrung und Konflikt. Legt man jemandem, der seine Beziehungen zu anderen Menschen, zu Besitz, Ideen oder Glaubenssätzen nicht versteht, eine Kollektivschablone auf, so vereitelt das den Zweck. Will man das Aufbürden eines neuen Schemas herbeiführen, dann ist sogenannte Massenaktion erforderlich; aber das neue Schema ist die Erfindung einiger weniger Menschen, und die Masse lässt sich durch die letzten Schlagwörter oder das Versprechen einer neuen Utopie leicht hypnotisieren. Es ist dieselbe Masse wie vorher, nur hat sie jetzt neue Herrscher und Priester, neue Phrasen und Lehren. Die Masse besteht aus Ihnen und mir, sie setzt sich aus Einzelwesen zusammen, sie ist erdichtet und nichts als ein bequemer Begriff, ein Spielball für Ausbeuter und Politiker. Die Vielen lassen sich von den Wenigen leicht zum Handeln oder zum Kriege treiben, während die Wenigen die Wünsche und Triebe der Vielen vertreten. Es ist die Umwandlung des Einzelnen, die von höchster Bedeutung wird – aber nicht nach einem Schema. Jede Schablone schafft neue Bedingtheit und ein bedingter Mensch ist immer in Konflikt – mit sich selber wie mit der Gesellschaft. Es ist verhältnismäßig leicht, eine alte, bedingende Schablone durch eine neue zu ersetzen, doch ist es etwas ganz anderes, sich von seiner gesamten Bedingtheit zu befreien.

»Über all das muss ich noch im einzelnen gründlich nachdenken, aber ich glaube, ich fange an zu verstehen. Sie legen großen Nachdruck auf den Einzelnen, doch nicht als abgesonderte und feindliche Macht innerhalb der Gesellschaft.

Jetzt zum zweiten Punkt. Ich habe immer für ein Ideal gearbeitet und verstehe nicht, warum Sie das so bekämpfen. Würden Sie bitte das Problem näher erörtern?«

Unsere Moral gründet sich heutzutage auf Vergangenheit oder Zukunft – auf das Herkömmliche oder das, was sein sollte. Das, was sein sollte, ist das Ideal im Gegensatz zu dem, was war, es ist die Zukunft im Konflikt mit der Vergangenheit. Gewaltlosigkeit ist ein Ideal, etwas das sein sollte, während tatsächlich Gewalt stattgefunden hat. Das Gewesene ersinnt das, was sein sollte; ein Ideal ist also selbst verfertigt, weil es von seinem eigenen Gegenteil – dem Tatsächlichen – ersonnen wird. Die Antithese ist nur eine Erweiterung der These, denn jedes Ding enthält die Bestandteile seines eigenen Gegensatzes.

Da unser Sinn gewalttätig ist, erfindet er das Gegenteil dazu, nämlich das Ideal der Gewaltlosigkeit. Es wird behauptet, dass das Ideal dabei helfen könne, sein eigenes Gegenteil zu überwinden – ist das wahr? Ist das Ideal nicht eher ein Vermeiden oder eine Flucht vor dem, was war, oder dem, was ist? Der Konflikt zwischen dem Tatsächlichen und dem Ideal ist offenbar ein Mittel, unser Verständnis für das Tatsächliche aufzuschieben; auch führt er gleichzeitig ein anderes Problem ein, das nur dazu dient, unser unmittelbares Problem zu verschleiern. Ein Ideal ist eine wunderbare und ehrenwerte Flucht vor dem Tatsächlichen.

Das Ideal der Gewaltlosigkeit ist genauso erdichtet wie eine kollektive Utopie; das Ideal oder das, was sein sollte, trägt nur dazu bei, das, was ist, zu bemänteln und zu umgehen. Die Jagd nach dem Ideal ist Streben nach Belohnung. Ein Mensch kann weltlichen Lohn als töricht oder barbarisch vermeiden – was er auch ist – aber seine Jagd nach dem Ideal ist nichts als Streben nach Belohnung auf einer anderen Ebene, was ebenso töricht ist. Das Ideal ist eine Entschädigung, ein unwirklicher Zustand, den unser Denken heraufbeschworen hat; und da unser Sinn gewalttätig ist, sich absondern will und auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist, ersinnt er zu seiner Befriedigung einen Ersatz oder eine Dichtung, die er Utopie, Ideal, Zukunftsbild nennt, und wonach er vergeblich strebt. Gerade solches Streben verursacht Konflikt und ist gleichzeitig ein angenehmer Aufschub des Tatsächlichen. Ein Ideal oder das, was sein sollte, kann uns niemals beim Verständnis dessen was ist, helfen – im Gegenteil, es wird eher zum Hindernis.