Das »Ich« – Teil 1

»Für mich ist das Meditieren von allergrößter Bedeutung. Mehr als fünfundzwanzig Jahre habe ich ganz regelmäßig zweimal am Tage meditiert. Zu Anfang war es recht schwer, ich hatte meine Gedanken nicht in der Gewalt, und es gab zu viele Ablenkungen, die ich allmählich jedoch gründlich ausgemerzt habe. Mehr und mehr habe ich meine Zeit und Kraft auf das letzte Ziel gerichtet. Ich bin bei verschiedenen Lehrern gewesen und habe allerlei Systeme des Meditierens befolgt, war aber von keinem je ganz befriedigt – vielleicht ist ›Befriedigung‹ nicht das rechte Wort. Sie alle führten bis zu einem bestimmten Punkte, je nach der besonderen Methode, und ich fand, dass ich immer zu einem Ergebnis des jeweiligen Systems wurde – es war aber nie mein Endziel. Aus all den Experimenten habe ich indessen eins gelernt: mein  Denken vollkommen zu meistern,  und meine Gefühle ganz im Zaum zu halten. Ich habe Atemübungen gemacht, um Körper und Geist zu beruhigen, habe das heilige Wort wieder und wieder ausgesprochen und lange gefastet; ich bin ein sittlicher Mensch, und weltliche Dinge haben für mich keinen Reiz mehr. Aber nach all den Jahren des Kämpfens und Mühens, der Disziplin und Entsagung habe ich noch nicht den Frieden oder die Seligkeit gefunden, wovon alle großen Lehrer sprechen. Hin und wieder, in seltenen Augenblicken bekam ich die Erleuchtung tiefer Ekstase wie ein intuitives Versprechen auf Größeres, aber es scheint, als ob ich nicht imstande sei, das Blendwerk meines eigenen Denkens zu durchbrechen, und ich fühle mich ständig darin gefangen. Eine Wolke der Verwirrung und Verzweiflung hat sich auf mich gesenkt, und mein Leid nimmt beständig zu.«

Wir saßen am Ufer eines breiten Flusses, dicht am Wasserrande. Die Stadt lag etwas weiter entfernt flussaufwärts. Ein Knabe sang am andern Ufer, während die Sonne hinter uns unterging und tiefe Schatten auf das Wasser warf. Es war ein herrlicher, ruhiger Abend; Wolkenmassen türmten sich im Osten auf, und der tiefe Fluss schien sich kaum zu bewegen. Er schenkte all der sich ausbreitenden Schönheit nicht die geringste Beachtung und war völlig in sein eigenes Problem versunken. Wir schwiegen beide. Er hielt die Augen geschlossen, sein strenges Gesicht hatte einen ruhigen Ausdruck, doch in seinem Innern tobte der Kampf. Ein Vogelschwarm ließ sich am Rande des Wassers nieder. Die Rufe der Vögel waren wohl bis über den Fluss gedrungen, denn bald darauf kam eine zweite Schar vom andern Ufer und gesellte sich zu der ersten. Zeitlose Stille senkte sich über die Erde.

Haben Sie in all den Jahren je aufgehört, nach dem Endziel zu streben? Setzt sich unser Ich nicht aus Wille und Anstrengung zusammen, und kann ein Vorgang in der Zeit je zum Ewigen führen?

»Ich habe bewusst nie aufgehört, nach dem zu streben, wonach ich mit Herz und Seele verlange. Ich wage nicht aufzuhören, denn dann würde ich stillstehen und verkommen. Es liegt im Wesen aller Dinge, aufwärts zu streben, und ohne Wille und Anstrengung kann man nicht weiterkommen. Wenn ich nicht zweckerfüllt strebe, werde ich nie über mein Ich hinausgehen können.«

Kann sich das ›Ich‹ je von seinen eigenen Fesseln und Illusionen befreien? Muss das ›Ich‹ nicht ganz aufhören, wenn etwas Namenloses eintreten soll? Und bestärkt das beständige Streben nach dem letzten Ziel nicht gerade unser Ich, wie konzentriert sein Verlangen auch sein mag? Sie kämpfen um das Endziel, und ein anderer jagt weltlichen Dingen nach; wenn auch Ihr Bemühen vielleicht edler ist, so ist es immer noch der Wunsch nach Gewinn, nicht wahr?

»Ich habe alle Leidenschaften und Wünsche bis auf diesen einen überwunden, und er ist mehr als ein bloßes Verlangen. Er ist das Einzige, wofür ich noch lebe.«

Dann müssen Sie ihm gegenüber genauso absterben, wie Sie es mit anderen Wünschen und Sehnsüchten getan haben. Sie haben sich in all den Jahren des Kämpfens und beharrlichen Aufgebens in dem einen einzigen Zweck bestärkt, aber er liegt noch auf dem Gebiet des ›Ich‹. Und Ihre Sehnsucht ist es, das Unnennbare zu erleben, nicht wahr?

»Natürlich. Ohne allen Zweifel habe ich den Wunsch, das letzte Ziel zu erkennen: ich möchte Gott erleben.«

Wer ein Erlebnis hat, wird unweigerlich durch sein Erlebnis beeinflusst. Im Augenblick, da man sich des Erlebens bewusst wird, ist das Erlebnis bereits ein Resultat des selbst-projizierten Wünschens. Sobald Sie erkennen, dass Sie ein Gotteserlebnis haben, ist Gott zur Projektion Ihrer Hoffnungen und Illusionen geworden. Es gibt keine Freiheit für den Menschen, der etwas erlebt: er ist für immer in seinen eigenen Erlebnissen gefangen, er ist der Schöpfer von Zeit und kann niemals das Ewige erfahren.

»Wollen Sie damit sagen, dass alles, was ich mit soviel Sorgfalt, Mühe und kluger Wahl aufgebaut habe, zerstört werden muss? Und muss ich selber das Werkzeug der Zerstörung sein?«

Kann das ›Ich‹ je auf positive Weise daran gehen, sich selbst zu verleugnen? Versucht es das, so hat es sicherlich die Absicht, etwas zu gewinnen, was sich nicht besitzen lässt. Jede Anstrengung des ›Ich‹ – was es auch tun und wie hoch es auch sein Ziel stecken mag – bleibt stets bewusst oder unbewusst auf dem Gebiet seiner eigenen Erinnerungen, Pläne und Abneigungen. Selbst wenn es sich spaltet in das organische ›Ich‹ und das übernatürliche oder ›Nicht-Ich‹, ist solche Unterscheidung nur eine Illusion, in der sich der Verstand verfängt. In welcher Richtung sich unser Denken oder ›Ich‹ auch bewegen mag, kann es doch niemals sich selbst befreien; es kann zwar von einem Gebiet zum andern, von törichter zu klügerer Wahl fortschreiten, aber seine Bewegung wird sich immer innerhalb des Bereichs seines eigenen Werdens vollziehen.

»Sie scheinen alle Hoffnung abzuschneiden. Was soll man aber tun?«

Man muss sich vollkommen entblößen und die Bürde der Vergangenheit wie die Lockung einer hoffnungsvollen Zukunft ablegen – was aber nicht etwa Verzweiflung bedeutet; denn ist man verzweifelt, so ist man weder leer noch entblößt. Man kann nichts mehr ›tun‹. Man soll und muss still sein – ohne Hoffnung, ohne Sehnsucht oder Verlangen. Doch kann man sich nicht entschließen, still sein und alles Geräusch unterdrücken zu wollen, denn in solcher Anstrengung liegt schon wieder Geräusch. Stille ist nicht das Gegenteil von Lärm.