Der Verstand und das Bekannte – Teil 1

Die Schablone des täglichen Lebens wiederholte sich auch heute um den einzigen Brunnen des Dorfes. Das Wasser lief langsam, und die Frauen warteten in einer Gruppe, bis sie an die Reihe kamen. Drei Frauen zankten sich laut und bitter, sie waren von ihrem Ärger so völlig in Anspruch genommen, dass sie auf nichts anderes achteten, noch von den andern beachtet wurden. Es musste bei ihnen wohl ein täglicher Ritus sein, und wie alle Riten wirkte er anregend, so dass die Frauen ihre Freude daran hatten. Eine alte Frau half einer jüngeren, ihren großen, blanken Messingtopf auf den Kopf zu heben. Sie hatte ein kleines Tuchkissen, um das Gewicht des Topfes besser ertragen zu können, und hielt ihn nur leicht mit einer Hand fest. Ihr Gang war herrlich und würdevoll. Ein kleines Mädchen kam still heran, hielt ihr Gefäß unter den Hahn und trug es wieder fort, ohne ein Wort zu sagen. Andere Frauen kamen und gingen, aber der Zank ging immer weiter, und es schien, als wolle er nie ein Ende nehmen. Plötzlich hörten die Drei auf, füllten ihre Gefäße mit Wasser und gingen davon, als ob nichts geschehen sei. Inzwischen war die Sonne wärmer geworden, und über den Strohdächern des Dorfes stieg Rauch auf. Die erste Mahlzeit des Tages wurde zubereitet. Wie friedlich war es mit einem Mal! Außer ein paar Krähen war beinahe alles ruhig. Nachdem das laute Zanken verstummt war, konnte man nun das Brausen des Meeres jenseits der Häuser, Gärten und Palmenhaine hören.

Mit unserer langweiligen, täglichen Routine führen wir ein Leben wie Maschinen. Wie willig nimmt unser Verstand eine Lebensschablone auf sich, und wie zäh hält er daran fest! Unser Denken wird durch Ideen wie mit Nägeln zusammengehalten, es lebt und strebt um seine Ideen herum. Niemals ist es frei und biegsam, denn stets liegt es vor Anker und bewegt sich innerhalb des engen oder weiten Radius um seinen eigenen Mittelpunkt. Es wagt sich nicht von seinem Mittelpunkt zu entfernen; geschieht es doch einmal, so verliert es sich in Furcht. Furcht bezieht sich nie auf das Unbekannte, sondern immer nur auf den Verlust des Bekannten. Nicht das Unbekannte, sondern Abhängigkeit vom Bekannten ist die Triebfeder der Furcht. Furcht tritt stets im Zusammenhang mit einem Verlangen, dem Wunsch nach mehr oder weniger, auf. Das unaufhörliche Weben von Mustern macht unser Denken zum Schöpfer von Zeit, und mit der Zeit entsteht Furcht, Hoffnung und Tod. Hoffnung führt zum Tode.

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Er sagte, er sei Revolutionär und wolle alle Gesellschaftsgefüge sprengen, um ganz von vorn wieder anzufangen. Er habe begeistert für die äußerste Linke, das heißt für die proletarische Revolution gearbeitet, aber alles sei fehlgeschlagen. Was sei nicht in dem Lande geschehen, wo die Revolution so glorreich durchgeführt worden war! Unvermeidlich habe die Diktatur mit ihrer Armee und Polizei innerhalb von ein paar Jahren wieder neue Klassenunterschiede gezüchtet, und ein herrliches Versprechen sei in Nichts zerronnen. Er wolle aufs neue eine tiefere und weitgreifendere Revolution beginnen, wolle aber darauf achten, dass alle Fallstricke früherer Revolutionen vermieden würden.

Was verstehen Sie unter Revolution?

»Eine völlige Umwandlung des heutigen Gesellschaftsgefügtes nach einem scharf umrissenen Plan, mit oder ohne Blutvergießen. Um wirksam zu sein, muss der Plan gut durchdacht, bis ins Letzte organisiert sein und peinlich genau ausgeführt werden. Eine solche Revolution ist die einzige Hoffnung, es gibt keinen anderen Ausweg aus dem Chaos.«

Werden Sie nicht wieder dieselben Ergebnisse bekommen: Zwang und die dazugehörigen Beamten?

»Im Anfang wird es vielleicht darauf hinauslaufen, aber das können wir überwinden. Wir werden eine besondere, vereinigte Gruppe bilden, die außerhalb der Regierung steht, aber sie beobachten und leiten soll.«

Sie wollen also Ihre Revolution nach einem Schema machen, setzen Ihre Hoffnung auf morgen und sind willens, sich und andere ihr zu opfern. Kann aber eine Revolution grundlegend sein, wenn sie sich auf Ideen stützt? Ideen nähren immer neue Ideen und damit Unterdrückung und Widerstand. Glaube ruft Gegnerschaft hervor, ein Glaube erzeugt viele andere, und dann folgen Konflikt und Feindschaft. Übereinstimmung im Glauben ist noch nicht Frieden. Eine Idee oder Meinung schafft zwangsläufig Widerstand, den die Machthaber immer wieder unterdrücken müssen. Eine Revolution, die sich auf Ideen stützt, bringt nur ihre eigene Gegenrevolution hervor, und der Revolutionär muss sein Leben lang andere Revolutionäre bekämpfen, wobei die besser Organisierten die Schwächeren beseitigen. Sie würden auch nur dasselbe Schema wiederholen, nicht wahr? Könnten wir vielleicht die tiefere Bedeutung einer Revolution hier erörtern?

»Das hätte wohl nur Wert, wenn es zu einem bestimmten Ziel führen würde. Eine neue Gesellschaftsordnung muss aufgebaut werden, und die einzige Art, das zu erreichen, ist planmäßige Revolution. Ich glaube nicht, dass ich meine Ansicht darüber ändern werde, aber lassen Sie einmal hören, was Sie zu sagen haben. Was Sie vorbringen werden, ist höchstwahrscheinlich schon von Buddha, Jesus und anderen religiösen Lehrern gesagt worden – wohin hat es aber geführt? 2000 Jahre lang hat man uns gepredigt, gut zu sein, und sehen Sie nur die Verwirrung, die die Kapitalisten gestiftet haben!«