Von allem Vergangenen rein gewaschen – Teil 1

Eine gut gepflegte Straße führte bis an den Fuß des Hügels heran und verlief sich dann in einen Pfad. Oben auf der Spitze des Hügels standen die Ruinen einer sehr alten Feste. Vor mehreren tausend Jahren war es eine furchterregende Stätte gewesen, ein Festung aus gewaltigen Felsen mit stolzen Säulenhallen, Mosaikfußböden, Gemächern und Marmorbädern. Je mehr man sich der Burg näherte, desto höher und dicker erschienen die Mauern, und desto wirksamer war sie wohl einmal verteidigt worden; und doch konnte sie erobert, zerstört und wieder aufgebaut werden. Die Außenmauern bestanden aus gewaltigen Felsblöcken, die ohne bindenden Mörtel aufeinander getürmt waren. Innerhalb der Mauern war ein alter Brunnen, viele Meter tief, zu dem Stufen hinunterführten; sie waren glatt und schlüpfrig, und die Seitenwände des Brunnens glänzten vor Feuchtigkeit. Alles lag jetzt in Trümmern, doch die herrliche Aussicht von der Spitze des Hügels war noch die gleiche. Zur Linken schimmerte das Meer; es begrenzte weit offene Ebenen und Hügel dahinter. In der Nähe ragten zwei kleinere Hügel auf, die in vergangenen Zeiten wohl auch Festungen getragen hatten, doch kaum der stolzen Burg zu vergleichen, die auf die benachbarten Hügel und Ebenen herabsah.

Es war ein lieblicher Morgen, und die Seebrise bewegte die leuchtenden Blumen, die zwischen den Trümmern wuchsen. Diese Blumen waren herrlich, sie hatten tiefe, saftige Farben und kamen an den merkwürdigsten Stellen hervor: auf den Felsen, in den Spalten der zerbrochenen Mauern und in den Höfen. Zahllose Jahrhunderte hatten sie frei und wild da gestanden und es schien fast frevelhaft, sie zu zertreten, wie sie den Pfad überwucherten. Es war ihre Welt, und wir waren fremd darin, aber sie ließen es uns nicht fühlen.

Die Aussicht von dem Hügel war nicht atemberaubend, wie man sie gelegentlich sehen kann, wenn Erhabenheit und Stille das Bewusstsein auslöschen. Hier war es nicht so. Hier herrschte friedliches Entzücken in sanfter Ausdehnung, hier konnte man zeitlos, ohne Vergangenheit und Zukunft leben, denn man fühlte sich eins mit der ganzen hinreißenden Welt. Man war kein menschliches Wesen mehr, kein Fremdling aus fernem Lande, man war Hügel, Ziege und Ziegenhirt, man war Himmel und blühende Erde, man war nicht getrennt, sondern ein Teil von allem. Doch man war sich ebenso wenig seiner Zugehörigkeit bewusst wie die Blumen dort. Man war das lächelnde Feld, das blaue Meer und der ferne Zug mit seinen Fahrgästen. Man war selber nicht da als Wählender, Vergleichender, Handelnder und Suchender: man war eins mit allem.

Jemand sagte, es sei spät und wir müssten gehen. So stiegen wir auf der andern Seite des Hügels den Pfad hinab und kamen dann auf den Weg, der zum Meer führte.

* * *

Wir saßen unter einem Baum, und er sprach davon, wie er während der beiden Weltkriege zuerst als Junge, dann als Mann von mittleren Jahren in verschiedenen Ländern Europas gearbeitet habe. Im letzten Kriege hatte er kein Heim mehr, hatte oft gehungert und wäre beinahe von einem der siegenden Heere für irgendetwas erschossen worden. Er hatte schlaflose, gequälte Nächte im Gefängnis zugebracht, denn sein Pass war auf seinen Wanderungen verloren gegangen, und niemand wollte seiner einfachen Aussage, wo er geboren sei und welchem Lande er angehöre, Glauben schenken. Er beherrschte mehrere Sprachen, war zuerst als Ingenieur, dann in einem Geschäft tätig gewesen, und nun malte er. Jetzt habe er einen Pass, sagte er lächelnd, sowie ein Heim.

»Es gibt viele in meiner Lage«, fuhr er fort, »Menschen, die zugrunde gerichtet waren und wieder auflebten. Ich bedaure nichts, aber ich habe irgendwie die Fühlung mit dem Leben verloren – wenigstens mit dem, was man Leben nennt. Ich habe genug von Heeren und Königen, von Politik und Fahnen. Sie haben alle ebensoviel Unglück und Leid gebracht wie unsere Religion, die mehr Blut vergossen hat als jede andere; nicht einmal die Welt der Moslem kann sich an Gewalttaten und Schrecken mit uns vergleichen, und nun sind wir schon wieder soweit! Früher war ich sehr zynisch, aber jetzt nicht mehr. Ich lebe allein, denn meine Frau und mein Kind starben im Kriege, und jedes Land ist mir nun recht, solange es warm genug ist. Ich mache mir keine Sorgen, verkaufe ab und zu eins meiner Bilder und erhalte mich davon. Manchmal ist es ziemlich schwierig auszukommen, aber dann geschieht immer irgendetwas, und da ich sehr bedürfnislos bin, kümmere ich mich kaum um Geld. Tief im Innern bin ich ein Mönch, doch nur außerhalb der Klostergefangenschaft. Ich erzähle Ihnen all das nicht, um über mich selber zu sprechen, sondern um Ihnen meinen Hintergrund zu skizzieren; denn im Gespräch mit Ihnen werde ich vielleicht etwas verstehen lernen, was lebenswichtig für mich geworden ist. Nichts anderes interessiert mich mehr, nicht einmal meine Malerei.

Eines Tages machte ich mich mit meiner Malausrüstung auf den Weg in die Berge, wo ich etwas gesehen hatte, das ich malen wollte. Es war noch recht früh am Morgen, als ich an die Stelle kam, nur ein paar Wolken schwebten am Himmel. Von meinem Standort konnte ich über das Tal hinweg auf das leuchtende Meer blicken; ich war entzückt, allein zu sein, und fing an zu malen. Ich muss wohl eine Zeitlang gemalt haben – mit sehr   schönem Erfolg, ganz ohne Spannung oder Anstrengung – als ich mir plötzlich bewusst wurde, dass im Innern meines Kopfes etwas vor sich ging, wenn ich es so ausdrücken darf. Ich war so völlig in meine Malerei vertieft, dass ich zuerst nicht gemerkt hatte, was mit mir geschah, aber dann kam es mir auf einmal zum Bewusstsein. Ich konnte nicht weiter malen und saß vollkommen still da.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort.