Der Tod – Teil 1

An dieser Stelle war der Fluss fast eine Meile breit und sehr tief, in der Mitte strömte das Wasser blau und klar, aber an den Ufern sah es trübe, schmutzig und träge aus. Die Sonne ging flussabwärts hinter der großen, weit ausgestreckten Stadt unter; Rauch und Staub der Stadt verliehen der sinkenden Sonne die wunderbarsten Farben, die sich in dem breiten, tanzenden Wasser spiegelten. Es war ein lieblicher Abend. Jeder Grashalm, jeder Baum und jeder zwitschernde Vogel war in zeitloser Schönheit gefangen. Nichts bestand für sich allein, nichts war abgesondert. Sogar der Lärm eines Zuges, wie er in der Ferne über eine Brücke ratterte, war Teil der vollkommenen Stille. In der Nähe fing ein Fischer an zu singen. An beiden Ufern liefen breite, bebaute Streifen Landes entlang, deren grüne, saftige Felder am Tage lächelten und lockten, jetzt aber sahen sie dunkel, stumm und zurückgezogen aus. Diesseits des Flusses war ein großes, unbebautes Stück Land, wo die Dorfkinder ihre Drachen steigen ließen und sich lärmend austoben konnten, und wo die Netze der Fischer zum Trocknen ausgebreitet waren. Ihre primitiven Boote lagen auch dort verankert.

Etwas weiter oben auf der Uferböschung war ein Dorf, und meist wurde dort am Abend gesungen und getanzt, oder es fanden andere Vergnügungen statt; aber heute saßen die Dorfbewohner sehr ruhig und auffallend nachdenklich draußen vor ihren Hütten. Eine Gruppe Menschen kam die steile Böschung herunter, sie trugen eine Bahre mit einer Leiche, die mit einem weißen Tuch bedeckt war. Als sie an mir vorüberkamen, folgte ich ihnen. Unten am Flussufer setzten sie die Bahre direkt am Rande des Wassers nieder. Sie hatten leicht brennbares Kleinholz und große, schwere Blöcke mitgebracht und errichteten damit einen Scheiterhaufen. Dann legten sie die Leiche obenauf, besprengten sie mit Flusswasser und bedeckten sie mit mehr Holz und etwas Heu. Ein junger Mann steckte den Scheiterhaufen an; wir waren etwa zwanzig Leute hier versammelt. Frauen waren nicht mitgekommen; die Männer hockten in ihren weißen Gewändern auf dem Boden und waren vollkommen ruhig. Das Feuer wurde bald zu heiß, sodass wir weiter abrücken mussten. Ein schwarz-verkohltes Bein kam aus dem Feuer hervor und wurde mit einer langen Stange wieder zurückgeschoben; da es nicht drinbleiben wollte, warf man einen schweren Holzklotz darauf. Die leuchtenden, gelben Flammen und die Sterne spiegelten sich im dunklen Wasser des Flusses. Die sanfte Brise hatte sich bei Sonnenuntergang gelegt, es war vollkommen still, bis auf das Knistern des Feuers. Der Tod war hier – flammend.

Inmitten all der bewegungslosen Menschen und der lebendigen Flammen erstreckte sich unendlicher Raum, unermessliche Entfernung, ungeheures Alleinsein. Es war nichts vom Leben Abgesondertes, Abgeschiedenes oder Getrenntes: es war Beginn und immer wieder Beginn. Etwas später brach der Schädel, und danach gingen die Dorfbewohner fort. Der letzte muss wohl ein Verwandter gewesen sein, denn er legte die Hände zum Gruß zusammen und ging dann langsam die Böschung hinauf. Jetzt war nur noch sehr wenig übrig, die hohen Flammen hatten sich beruhigt, und es blieben nichts als glimmende Kohlen. Die wenigen unverbrannten Knochen würden morgen in den Fluss geworfen werden. Wie gewaltig ist doch der Tod, wie unmittelbar und wie nahe! Mit dem Verbrennen jener Leiche war man selber gestorben. Es herrschte völliges Alleinsein, und doch nicht Abgeschiedenheit, Alleinsein aber keine Absonderung. Absonderung gehört zum Verstande, nicht zum Tode.

* * *

Er war in vorgerücktem Alter, würdevoll und ruhig in seinem Benehmen, hatte klare Augen und ein bereitwilliges Lächeln. Er sprach englisch, denn er war in England erzogen worden, und erklärte, dass er aus dem Regierungsdienst ausgeschieden sei und jetzt viel freie Zeit habe. Er sagte, er habe auch verschiedene Religionen und Philosophien studiert, habe aber die weite Reise nicht gemacht, um über solche Dinge zu sprechen.

Die frühe Morgensonne lag auf dem Fluss, und das Wasser glitzerte wie mit tausend Juwelen besät. Auf der Veranda saß ein kleiner goldgrüner Vogel, sicher und ruhig, und sonnte sich.

»Ich bin eigentlich gekommen«, fuhr er fort, »um etwas zu fragen, oder vielleicht um über das zu sprechen, was mich am meisten beunruhigt: den Tod. Ich habe das Tibetische Totenbuch gelesen und bin auch mit allem vertraut, was unsere eigene Literatur über das Thema sagt. Die christlichen und mohammedanischen Andeutungen über den Tod sind viel zu oberflächlich. Ich habe hier wie in andern Ländern mit den verschiedensten religiösen Lehrern gesprochen, aber alle ihre Theorien erscheinen mir wenigstens sehr unbefriedigend. Ich habe sehr viel darüber nachgedacht und oft meditiert, komme aber nicht viel weiter. Ein Freund von mir, der Sie kürzlich sprechen hörte, berichtete mir einiges von dem, was Sie gesagt haben, und so bin ich hergekommen. Mein Problem ist nicht nur die Furcht vor dem Tode, die Furcht davor, nicht mehr zu bestehen, sondern auch: was geschieht nach dem Tode? Das ist seit unendlichen Zeiten ein Problem für den Menschen gewesen, und niemand scheint es je gelöst zu haben. Was sagen Sie dazu?«

Die nackte Tatsache des Sterbens drängt uns zu allerlei Ausflüchten, und zwar durch leichte Vernunfterklärungen oder bestimmte Formen des Glaubens, wie etwa Wiederverkörperung oder Auferstehung; aber diesen Drang lassen Sie uns gleich abtun. Unser Verstand ist so begierig darauf, eine vernünftige Erklärung oder eine befriedigende Antwort auf den Tod zu finden, dass er leicht in eine Illusion hineingleitet. Hierauf muss man besonders achten.

»Ist das nicht gerade eine unserer größten Schwierigkeiten? Wir sehnen uns nach irgendwelchen Versicherungen, und zwar besonders von Menschen, denen wir Wissen oder Erfahrung in solchen Dingen zuschreiben; und wenn wir keine Gewissheit finden können, schaffen wir uns in Verzweiflung und Hoffnung unsere eigenen tröstlichen Glaubenssätze und Theorien. Damit wird uns der Glaube zur Notwendigkeit – sei er nun höchst übertrieben oder sehr vernünftig.«