Konflikt – Freiheit – Beziehung – Teil 1

»Der Konflikt zwischen These und Antithese ist unvermeidlich und sogar notwendig. Er führt zur Synthese, aus der wiederum eine These mit ihrer entsprechenden Antithese hervorgeht und so weiter. Konflikt geht nie zu Ende, und durch Konflikt allein können Wachstum und Fortschritt kommen.«

Führt Konflikt je zum Verständnis unserer Probleme oder zu Wachstum und Fortschritt? Ist nicht Konflikt gerade seinem Wesen nach ein zersetzender Faktor, selbst wenn er mitunter nebensächliche Verbesserungen zur Folge hat? Warum betonen Sie, dass Konflikt wesentlich sei?

»Wir wissen, dass wir auf allen Ebenen unseres Daseins Konflikte haben; warum sollen wir das ableugnen oder die Augen davor verschließen?«

Man ist sicherlich nicht blind gegen seine beständigen inneren und äußeren Kämpfe. Wenn ich aber fragen darf: warum betonen Sie deren Notwendigkeit so stark?

»Konflikt lässt sich nicht verleugnen. Er ist ein Teil unseres menschlichen Wesens, und wir benutzen ihn als Mittel zum Zweck, wobei unser Zweck das Schaffen der rechten Umgebung für den Einzelnen ist. Wir arbeiten auf dieses Ziel hin und bedienen uns aller Mittel, um es herbeizuführen. Ehrgeiz und Konflikt liegen im Wesen des Menschen und können für oder gegen ihn angewandt werden. Durch Konflikt schreiten wir zu größeren Dingen fort.«

Was verstehen Sie unter Konflikt? Konflikt zwischen …?

»Zwischen dem, was war, und dem, was sein wird.«

Das, ›was sein wird‹, ist unsere künftige Reaktion auf das, was war und ist. Unter Konflikt verstehen wir den Streit zwischen zwei einander entgegengesetzten Ideen. Kann aber Widerstand in irgendwelcher Form zum Verständnis beitragen? Wann tritt Verständnis für ein Problem ein?

»Es gibt Konflikte zwischen Klassen, Nationen und Ideen. Konflikt ist Gegenüberstellung, Widerstand infolge von Unwissenheit über bestimmte, grundlegende, historische Tatsachen. Durch Widerstand entsteht Wachstum, Fortschritt, ja unser gesamter Lebensvorgang.«

Wir wissen, dass Konflikte auf allen Ebenen unseres Daseins vorkommen, es wäre töricht, das zu leugnen. Ist aber Konflikt notwendig? Das haben wir bisher immer angenommen oder mit List und Schlauheit verteidigt. In der Natur hat Konflikt vielleicht eine ganz andere Bedeutung, und bei den Tieren besteht er womöglich in der Art, wie wir ihn kennen, überhaupt nicht. Doch für uns ist Konflikt zu einem höchst bedeutenden Faktor geworden. Warum hat er aber so große Bedeutung in unserem Leben? Wettbewerb und Ehrgeiz, die Anstrengung, etwas zu werden oder nicht zu werden, der Wille, etwas zu erreichen, und so weiter – das sind alles Bestandteile unserer Konflikte. Warum lassen wir sie als so wesentlich in unserem Leben gelten? Das bedeutet andrerseits noch nicht, dass wir Trägheit billigen sollen. Weshalb ertragen wir aber innere und äußere Konflikte? Sind sie zum Verstehen oder Lösen unserer Probleme notwendig? Sollten wir nicht lieber, anstatt immer zu verteidigen oder abzuleugnen, untersuchen? Sollten wir nicht danach trachten, die Wahrheit herauszufinden, und nicht nur an unseren Meinungen und Schlussfolgerungen festhalten?

»Wie kann man ohne Kampf von einer Gesellschaftsform zur anderen fortschreiten? Die besitzende Klasse wird ihren Reichtum niemals freiwillig aufgeben, man muss sie dazu zwingen, und der Kampf darum wird eine neue Gesellschaftsordnung, eine neue Lebensweise herbeiführen. Auf friedliche Art lässt sich  das  nicht erreichen. Wenn wir auch nicht gern Gewalt anwenden, so müssen wir doch den Tatsachen ins Auge sehen.«

Sie glauben, Sie allein wüssten, wie die neue Gesellschaft aussehen sollte, und niemand sonst; nur Sie seien im Besitz eines so außergewöhnlichen Wissens, und Sie sind daher bereit, alle, die Ihnen im Wege stehen, umzubringen. Eine solche Handlungsweise, die Sie für erforderlich halten, führt aber nur zu Widerstand und Hass, denn Ihr Wissen ist nichts als ein neues Vorurteil, eine andere Form der Bedingtheit. Die historischen Studien, die Sie oder Ihre Führer gemacht haben, werden auf besondere Weise ausgelegt, und das bestimmt Ihre Reaktion, die Sie dann den neuen Zugang oder die neue Ideologie nennen. Alle Reaktionen unseres Denkens sind bedingt, und wenn man eine Revolution, die auf einem Gedanken oder einer Idee beruht, herbeiführen will, verlängert man nur den veränderten Zustand dessen, was bestand. Sie sind alle Ihrem Wesen nach Reformatoren und keine wahren Revolutionäre. Eine Reformation oder Revolution, die sich auf Ideen gründet, wirkt rückschrittlich auf die Gesellschaft.

Sagten Sie nicht, dass der Kampf zwischen These und Antithese notwendig sei, und dass ein solcher Konflikt der Gegensätze die Synthese hervorbringe?

»Der Kampf zwischen unserer heutigen Gesellschaftsform und ihrem Gegensatz muss am Ende durch den Druck historischer Ereignisse eine neue Gesellschaftsordnung zur Folge haben.«

Ist ein Gegensatz anders oder abweichend von dem, was ist} Wie entsteht der Gegensatz? Ist er nicht eine Abart der Projektion dessen, was ist? Sind nicht in jeder Antithese die Bestandteile ihrer eigenen These enthalten? These und Antithese sind nicht sehr verschieden voneinander, und die Synthese ist immer noch eine Abart der These. Mag die These auch zeitweise eine andere Färbung annehmen, mag sie verändert, verbessert, den Umständen und dem Druck gemäß neu gestaltet werden, so bleibt sie doch immer These. Der Kampf zwischen den Gegensätzen ist durchaus verderblich und ganz töricht. Man kann mit dem Verstande oder mit Worten alles beweisen oder widerlegen, aber das wird niemals bestimmte, unverkennbare Tatsachen ändern können. Die heutige Gesellschaft ist auf der Gewinnsucht des Einzelnen aufgebaut, und das Gegenteil hiervon, mit der sich ergebenden Synthese, wird als die neue Gesellschaft bezeichnet. In Ihrer neuen Gesellschaft steht die Gewinnsucht des Staates der des Einzelnen gegenüber, und der Staat ist die regierende Klasse; damit hat der Staat die höchste Bedeutung und nicht mehr der Einzelne. Sie behaupten nun, dass aus einer solchen Antithese schließlich eine Synthese kommen könne, und der einzelne Mensch wieder wichtig sein werde. Das ist eine Zukunftsphantasie, ein Ideal, eine Projektion des Denkens und deshalb nichts als eine Reaktion des Gedächtnisses oder der Bedingtheit. In der Tat laufen wir in einem bösen Kreise herum ohne Ausweg! Und solchen Konflikt, solchen Kampf innerhalb unseres Denkkäfigs nennen Sie dann Fortschritt.

Konflikt – Freiheit – Beziehung – Teil 2

»Wollen Sie damit sagen, dass alles so bleiben muss, wie es ist, mit der Ausbeutung und Verderbtheit unserer heutigen Gesellschaft?«

Durchaus nicht. Doch Ihre Revolution ist keine Revolution, sie bedeutet nichts als den Übergang der Macht von einer Gruppe zur andern und das Ersetzen einer Klasse durch eine andere. Ihre Revolution ist nur ein anderes Gebäude, aus demselben Material gefügt und innerhalb desselben grundlegenden Schemas. Es gibt jedoch eine radikale Wandlung, die keinen Konflikt darstellt und nicht auf dem Denken mit seinen ich-haften Projektionen, Idealen, Dogmen und Utopien beruht. Solange wir aber noch glauben, wir könnten dies in jenes verwandeln, mehr oder weniger werden oder ein Ziel erreichen, kann keine grundlegende Umwandlung stattfinden.

»Solche Revolution ist undenkbar. Schlagen Sie das ernsthaft vor?«

Es ist die einzige Revolution, die einzig grundlegende Wandlung.

»Wie stellen Sie sich vor, dass man sie herbeiführen könne?«

Indem man das Falsche als falsch erkennt und die Wahrheit im Falschen sieht. Zweifellos müssen die Beziehungen von Mensch zu Mensch eine grundsätzliche Umwandlung erfahren. Wir alle wissen, dass die Dinge nicht so weitergehen können, ohne dass wir Leid und Unheil nur noch vergrößern. Aber die Reformatoren wie die sogenannten Revolutionäre haben ein Ziel vor Augen, das sie erreichen wollen, und beide benutzen den Menschen als Mittel zu ihrem Zweck. Das Benutzen des Menschen wird nun zum wahren Ausgangspunkt, und nicht mehr das Erreichen eines besonderen Zieles. Man kann aber Zweck und Mittel nicht trennen, denn sie bilden einen einzigen, unteilbaren Vorgang. Die Mittel sind Zweck. Es ist unmöglich, eine klassenlose Gesellschaft mit Hilfe von Klassenkonflikten zu errichten. Wenn man falsche Mittel zu sogenannten rechten Zielen anwendet, ist das Ergebnis ziemlich deutlich. Frieden kann niemals durch Krieg oder Bereitschaft zum Kriege kommen. Alle Gegensätze sind selbst-projiziert; ein Ideal ist die Reaktion auf das, was ist, und der Kampf um das Ideal ist ein vergeblicher und trügerischer Streit innerhalb unseres Gedankenkäfigs. Aus solchem Konflikt kann keine Erlösung oder Befreiung für den Menschen entstehen. Ohne Freiheit gibt es aber kein Glück. Freiheit ist kein Ideal, und der einzige Weg zur Freiheit ist die Freiheit selber.

Solange man sich des Menschen im Namen Gottes oder des Staates, psychologisch oder physiologisch bedient, bleibt unsere Gesellschaft auf Gewalt begründet. Es ist eine List der Politiker und der Priester, Menschen zu einem Zweck gebrauchen zu wollen, und es ist zugleich die Verleugnung aller menschlichen Beziehung.

»Was wollen Sie damit sagen?«

Kann eine Beziehung zwischen uns bestehen, wenn wir einander zu unserer gegenseitigen Befriedigung benutzen? Steht man zu einem Menschen in Beziehung, wenn man ihn zu seinem Behagen wie ein Möbelstück gebraucht? Hat man irgendeine Beziehung zu einem Möbel? Man kann es sein Eigentum nennen – das ist aber auch alles. In ähnlicher Weise nennt man einen anderen Menschen sein eigen und besitzt ihn, wenn man ihn zu psychologischem oder physiologischem Gewinn benutzt; kann man aber Besitztum als eine Beziehung ansehen? Der Staat bedient sich des Einzelnen und nennt ihn Bürger, er steht in keiner Beziehung zu ihm, sondern benutzt ihn lediglich als Werkzeug. Ein Werkzeug ist etwas Totes, und zu toten Dingen hat man keine Beziehung. Wenn man den Menschen für einen noch so edlen Zweck benutzt, braucht man ihn doch nur als Werkzeug, als etwas Lebloses. Da man sich des Lebendigen nicht bedienen kann, verlangt man nach Leblosem, und daher beruht unsere Gesellschaftsordnung auf dem Gebrauch lebloser Dinge. Ein Mensch wird zum leblosen Werkzeug der Befriedigung, wenn man sich seiner auf irgendeine Weise bedient. Beziehungen können nur zwischen lebenden Wesen herrschen, aber beim Benutzen eines anderen Menschen setzt ein Isolierungsvorgang ein, und Isolierung erzeugt Konflikt und Streit.

»Warum legen Sie so großen Nachdruck auf Beziehung?«

Unser Dasein besteht aus Beziehungen. Zu leben bedeutet, in Beziehung zu stehen. Gesellschaft ist Beziehung. Das Gefüge unserer heutigen Gesellschaftsordnung ist auf gegenseitigen Gebrauch aufgebaut und hat daher Gewalt, Zerstörung und Elend zur Folge. Wenn der sogenannte revolutionäre Staat das nicht von Grund auf ändern kann, wird er – vielleicht auf einer anderen Ebene – nur neue Konflikte, mehr Verwirrung und Widerstand schaffen. Solange wir einander psychologisch benötigen und gebrauchen, kann keine Beziehung zwischen uns bestehen. Beziehung ist eine Verbindung; wie kann man mit einem anderen verbunden sein, wenn man ihn ausnützt? Ausbeutung schließt Furcht ein und führt unweigerlich zu allen möglichen Illusionen und Nöten. Nur bei Ausbeutung herrscht Konflikt, nie aber in einer Beziehung. Wenn man sich eines anderen zu seinem Vergnügen oder zu einem andern Zweck bedient, muss Konflikt, Widerstand und Feindschaft entstehen. Zweifellos kann man aber den Konflikt nicht beseitigen, indem man ihn als Mittel zu einem selbst erfundenen Ziele benutzt; und alle Ideale oder Utopien sind selbst erfunden. Es ist sehr wichtig, das zu begreifen; denn nur dann kann man erkennen, wie wahr es ist, dass Konflikt in jeder Form Beziehung und Verständnis zerstört. Verständnis tritt erst ein, wenn unser Sinn ruhig ist. Doch solange er sich an eine Ideologie, ein Dogma oder einen Glauben klammert, solange er der Schablone seiner eigenen Erfahrungen und Erinnerungen verhaftet ist, solange er auf Erwerb oder Werden gerichtet ist, kann er nicht ruhig sein. Alles Erwerben bedeutet Konflikt, und alles Werden Isolierung. Wird unser Sinn diszipliniert, kontrolliert und im Zaum gehalten, so kann er nicht ruhig sein. Dann wird er leblos, isoliert sich mit Hilfe von allerlei Widerstand und schafft dadurch unvermeidliches Unglück für sich selbst und andere.

Unser Sinn ist nur dann still, wenn er sich nicht mehr in seinem Denken – dem Netz seiner eigenen Tätigkeit – verfängt; und ist er einmal ruhig – nicht ruhig gemacht –, so tritt ein wirklicher Faktor ins Dasein: die Liebe.