Bewertung – Teil 1

Meditieren ist außerordentlich wichtig für unser Leben, vielleicht ist es diejenige unserer Handlungen, die die größte und tiefgehendste Bedeutung hat. Es ist wie ein Duft, der sich nicht so leicht einfangen lässt, und kann weder durch Streben noch Übung erkauft werden. Ein System trägt immer nur die Früchte, die es anbietet, aber Systeme und Methoden sind auf Neid und Habgier begründet.

Nicht meditieren zu können, bedeutet, weder Sonnenlicht noch dunkle Schatten, weder glitzerndes Wasser noch zarte Blätter wahrzunehmen. Und wie wenige Menschen sehen all das! Meditation hat nichts für den zu bieten, der mit gefalteten Händen betteln kommt, noch kann sie uns vor Schmerzen bewahren. Sie macht alle Dinge vollkommen klar und einfach; doch um die Einfachheit bemerken zu können, muss sich unser Denken ohne Grund oder Antrieb von allem befreien, was es mit Grund und Antrieb gesammelt hat. Das ist der wesentliche Punkt beim Meditieren. Meditation ist die Läuterung des Bekannten. Es ist ein Spiel des Selbstbetrugs, dem Bekannten in seinen verschiedenen Formen zu folgen, denn dann wird der Meditierende zum Führer, und die einfache Handlung des Meditierens findet nicht statt. Der Meditierende kann sich nur im Bereich des Bekannten betätigen, und erst wenn er aufhört tätig zu sein, tritt das Unbekannte auf. Das Unerkennbare ladet uns ebenso wenig ein, wie wir es einladen können. Es kommt und geht wie der Wind und lässt sich nicht fangen oder zu unserem Vorteil und Nutzen aufspeichern. Es hat keinen praktischen Wert, aber ohne es ist unser Leben unermesslich leer.

Es handelt sich nicht darum, wie man meditieren, welchem System man folgen soll, sondern darum: was ist Meditieren? Die Frage nach dem ›Wie‹ kann nur ergeben, was die jeweilige Methode bietet, aber das bloße Erforschen des Meditierens wird ihm das Tor öffnen. Das geschieht nicht außerhalb unseres Denkens, sondern gerade innerhalb seiner eigenen Regungen, und es ist dabei viel wichtiger, den Suchenden selber als das, was er sucht, zu verstehen. Denn was er sucht, ist nichts als die Spiegelung seines eigenen Verlangens, seiner Zwangsvorstellungen und Wünsche. Wenn man diese Tatsache klar erkennt, hört sofort alles Suchen auf, was an sich schon außerordentlich bedeutungsvoll ist. Dann tastet unser Denken nicht mehr nach etwas jenseits seines Bereichs, und seine Bewegung nach außen mit ihren Reaktionen nach innen hört auch auf. Ist aber das Suchen vollkommen beendet, dann entsteht eine Regung des Denkens, die weder nach außen noch nach innen geht. Man kann jedoch das Suchen nicht durch einen Willensakt oder eine Reihe verwickelter Schlussfolgerungen beenden, es erfordert vielmehr tiefgehendes Verständnis. Das Ende allen Suchens ist der Anfang eines ruhigen Sinnes.

Obwohl unser Sinn der Konzentration fähig ist, bedeutet das noch nicht notwendigerweise, dass er auch meditieren kann. Eigen-Interesse führt genauso zur Konzentration wie jedes andere Interesse, doch schließt solche Konzentration bewusst oder unbewusst eine Ursache, einen Beweggrund ein; es gibt immer etwas, das man erreichen oder beiseitesetzen will, immer ein Bemühen, etwas zu verstehen oder ans andere Ufer zu gelangen. Aufmerksamkeit mit einem Ziel ist aufs Ansammeln gerichtet. Die Aufmerksamkeit, die bei der Bewegung auf etwas hin oder von etwas fort entsteht, bedeutet Anziehung aus Vergnügen oder Abstoßung aus Schmerz; Meditieren ist dagegen ein außergewöhnliches Beobachten, bei dem es keinen Urheber, kein Ziel und keinen Gewinn gibt. Anstrengung ist ein Teil des Vorganges, der sich auf Erwerb richtet, wobei der Erfahrende Erfahrungen sammelt. Der Erfahrende kann sich konzentrieren, kann aufmerksam sein und beobachten, aber sein Verlangen nach Erfahrung muss vollkommen aufhören, denn er ist selber nur eine Ansammlung von Bekanntem.

Im Meditieren liegt höchstes Entzücken.

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Er erklärte, er habe Philosophie und Psychologie studiert und auch Patanjali gelesen. Er halte das christliche Denken für recht oberflächlich und nur auf Verbesserung eingestellt, daher sei er in den Orient gegangen, habe Yoga gelernt und sich mit der Hindu Denkweise ziemlich gut vertraut gemacht.

»Ich habe in Ihren Schriften gelesen und glaube, dass ich bis zu einem bestimmten Punkt folgen kann. Ich erkenne zum Beispiel, wie wichtig es ist, sich selbst nicht zu verurteilen, obgleich es mir außerordentlich schwer fällt, es nicht zu tun; aber ich kann durchaus nicht verstehen, was Sie damit meinen, wenn Sie sagen: ›Bewerte nicht, richte nicht‹. Alles Denken scheint mir ein Bewertungsvorgang zu sein. Unser Leben, unser ganzer Ausblick gründet sich auf Wahl und Wert, auf gut und böse und so weiter. Ohne Bewertungen würden wir einfach verkommen, und das können Sie doch bestimmt nicht meinen. Ich habe versucht, mein Denken aller Normen und Werte zu entblößen, aber für mich zum mindesten ist das unmöglich.«

Gibt es Denken ohne Worte, ohne Symbole? Sind Worte zum Denken nötig? Wenn keine Symbole und Bezugsbegriffe bestünden, gäbe es dann das, was wir Denken nennen? Und geht alles Denken in Worten vor sich, oder gibt es auch wortloses Denken?

»Ich weiß nicht, ich habe noch nie darüber nachgedacht. Soweit ich sehen kann, gäbe es ohne Symbole und Worte kein Denken.«

Können wir nicht der Sache jetzt auf den Grund gehen, während wir darüber sprechen? Ist es nicht möglich, selber herauszufinden, ob man ohne Worte und Symbole denken kann oder nicht?

»In welcher Beziehung steht das aber zum Problem der Bewertung?«